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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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atmete durch.
    Paul Niemann saß im Schlafanzug auf der Couch, die Haare wirr, die Brille leicht schief. Ein Hauch von Bartschatten, der ihn angenehm ungepflegt erscheinen ließ.
    Wie war es möglich, dass sie ihn oben nicht gesehen hatte? »Hab ich geschlafen?«
    Er nickte.
    »Sie müssen mich wecken, wenn Sie sehen, dass ich schlafe.«
    »Es tut mir leid, ich ...« Paul Niemann brach ab.
    Wie sie diese halben Sätze hasste, dieses »Ich ...«, und dann ging es schon nicht mehr weiter. Diese Unsicherheit bei einem Mittvierziger, einem Vater.
    Sie setzte sich auf einen der Sessel. »Und Sie?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich konnte nicht mehr schlafen.«
    »Schlechte Träume.«
    Paul Niemann verneinte. »Ein ... Gefühl. Im Kopf. Wie am Samstag.«
    »Was für ein Gefühl?«
    »Es ist wie ein Schatten, der in meinem Kopf sitzt. Es drückt.«
    Sie schwieg.
    »Er ist hier«, flüsterte Paul Niemann.
    »Was?«
    »Er ist hier, das spüre ich in meinem Kopf.«
    Sie nickte. Für einen Moment glaubte sie zu verstehen,
was in Paul Niemann vorging. Die Angst. Vielleicht Ahnungen. Vielleicht auch das Gefühl, mitverantwortlich zu sein an allem.
    Ein einziger Albtraum seit vergangenem Samstag.
    »Im Haus kann er nicht sein«, sagte sie.
    »Dann draußen, vor dem Haus.«
    Sie schüttelte den Kopf. Unmöglich. Au war eine Festung, auch in der Nacht.
    Paul Niemann strich sich mit einer Hand hastig über die Haare. Sein Blick lag noch auf ihr, die Lippen waren nach innen geklappt, die Augen hinter den Brillengläsern zusammengekniffen. Ein verkniffener Mensch, und es wurde immer schlimmer, je größer die Herausforderungen, die Probleme waren.
    Sie müssen da raus, dachte sie, kommen Sie da
raus.
Aus der Isolation, der Unsicherheit. Aus der Erinnerung an München, als alles anders war, schöner, was doch überhaupt nicht stimmt.
    »Ich wollte diese Menschen nicht zurückschicken«, sagte Paul Niemann.
    Sie wartete, dass er weitersprach, doch er schwieg, und sie überlegte, ob das Schweigen eine Frage war, die Frage eines vollkommen verunsicherten Menschen, der seinen Platz in der Welt, in der Familie verloren hatte – ist es okay, wenn ich rede?
    Sie nickte.
    »Keinen von ihnen«, sagte Paul Niemann, und die Hand strich wieder über den Kopf. »Sie wollten in Deutschland bleiben, also, jedenfalls die meisten, vor allem die Kinder ... Viele der Kinder waren länger in Deutschland als in Bosnien. Deutschland war doch ihre Heimat geworden. Kaum jemand wollte zurück, und ich habe die Duldungen
so oft erneuert, wie es ging, aber ... Irgendwann ging es nicht mehr, dann musste ich die Rückführung ...«
    »Verstehe.«
    »September 1998 , haben Sie gesagt?«
    »Ja.«
    »Bevor die Bleiberegelung kam. Ende 1998 oder Anfang 1999 kam die Bleiberegelung. Wann sind sie eingereist?«
    »November 1993 .«
    »Dann hätten sie bleiben dürfen. Ein paar Monate noch, und sie hätten bleiben dürfen.«
    »Das wusste ich nicht.«
    »Ja. Ende 1998 oder Anfang 1999 kam die Bleiberegelung.« Paul Niemann hob die Brille von der Nase, blickte prüfend hindurch, setzte sie wieder auf. »Ich wollte keinen zurückschicken, aber es ging nicht anders.«
    »Sie haben getan, was Sie tun mussten.«
    »Ja. Was ich tun musste.«
    »Sind Sie deshalb krank geworden?«
    »Nein. Ich hatte eine Lungenentzündung.«
    »Im Sommer«, sagte Louise freundlich.
    Paul Niemann nickte.
    »Sie müssen da raus, Herr Niemann, kommen Sie endlich aus dieser Gedankenmühle raus. Vergessen Sie, was Sie tun mussten. Vergessen Sie München. Kümmern Sie sich um Ihre Familie.«
    »Ja.« Paul Niemann stand auf. »Aber jetzt sollte ich wieder schlafen gehen.«
    »Haben Sie gehört?«
    »Ja.« Er ging zur Tür. »Sie sollten auch schlafen gehen. Vielleicht kann wirklich nichts passieren. Ich ... Au ist eine Festung.«
    Louise schnaubte durch die Nase, spürte im selben Moment
eine Wut in sich aufsteigen, die sie schon kannte, die Paul-Niemann-Wut, wie gern hätte sie diesen Kerl ein paarmal geohrfeigt. Scharf sagte sie: »Kommen Sie endlich in die Gänge.«
    »In die Gänge kommen, ja«, sagte Paul Niemann und schickte sich an, die Tür zu schließen.
    »Und lassen Sie die verdammte Tür offen.«
    »Ja, natürlich. Gute Nacht.«
    »Und das Licht bleibt an.«
    Paul Niemann sagte nichts mehr. Sie hörte ihn die Treppe hinaufgehen, jetzt tat er ihr schon wieder leid, aber so ging das doch nicht weiter. Sie schüttelte erbost den Kopf, stand auf.
    Während sie nach oben ging, dachte sie an einen

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