Im Auftrag der Väter
zurückkehrte. Sie freute sich sehr, ihn wiederzusehen, aber sie wünschte, es wäre unter anderen Umständen geschehen. Wieder ließ er sich ein Stückweit in ihre Abgründe hinunterziehen. Wieder unterstützte er sie bei einem ihrer nicht allzu verantwortungsbewussten Alleingänge.
Wieder nahm sie ihn mit zum Rappeneck.
Doch diesmal, dachte sie, kannte er seine Grenzen, und das war doch mal ein Fortschritt.
Sie schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, aber an Schlaf war nur zeitweise zu denken. Auch dieses Zimmer ging auf die Straße, die Autos schienen mitten hindurchzufahren, alle paar Sekunden das Duett aus Räderrattern und Motorengetöse. Aus Ivas Zimmer drangen bis tief in die Nacht Stimmen und Musik aus einem Fernseher, und dann natürlich Antun Lončar, der sie in dieser Nacht auch im Traum nicht loslassen wollte.
Thomas Ilic, dessen langsame, schwere Schritte sie immer wieder im Flur hörte.
Gegen drei erwachte sie zum x-ten Mal. Der Fernseher war aus, sekundenlang kam kein Auto. Als sie Thomas Ilic im Flur hörte, schlüpfte sie in die Jeans.
Sie gingen in die Küche.
»Ich mache mir eben Sorgen«, sagte er.
»Ich weiß.«
Sie spürte, dass er sich fragte, ob es richtig war, ihr zu helfen. Dass er darüber nachdachte, Ben Liebermann anzurufen und ihm abzusagen.
»Was willst du tun, wenn du ihn findest? Du kannst ihn nicht festnehmen, du kannst ihn nicht nach Deutschland bringen. Du kannst ihn doch nicht ...«
Sie schwiegen.
»Würdest du das tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Kann ich mich darauf verlassen?«
»Ja.«
»Gut. Ich glaube, ich muss mich darauf verlassen können.«
»Illi, ich bin keine Mörderin.«
Für einen Moment sah sie Calambert im Schnee liegen. Die zweite Kugel war überflüssig gewesen.
War
sie eine Mörderin?
Aber die Erinnerung war so unvollständig.
»Natürlich nicht.«
»Also mach dir keine Sorgen.«
Thomas Ilic nickte.
»Ein Bier, Illi?«
»Ja.«
Sie beugte sich zum Kühlschrank, nahm eine Einliterflasche
aus braunem Plastik heraus. Karlovačko, eines der vielen kroatischen Biere. Thomas Ilic lächelte, als sie ihm die Flasche reichte. Gastgeberin und Gast.
»Ich brauch jetzt auch eins«, sagte sie.
Das Lächeln erstarrte.
»War ein Scherz, Illi.«
»Ich bin deine Scherze nicht mehr gewöhnt.«
»Du bist vieles nicht mehr gewöhnt nach eineinhalb Jahren Pause.«
»Ja. Nein.«
»Wird Zeit, dass du wieder anfängst.«
»Ja.«
»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Illi.«
»Ich muss mich darauf verlassen können.«
»Kannst du«, sagte Louise und hoffte, dass ihre Zweifel nicht zu hören waren.
Gegen neun brach sie auf. Iva war schon fort, Thomas Ilic begleitete sie zum Auto.
Sie umarmten sich.
»Vielleicht ist es ein Fehler«, sagte Thomas Ilic.
»Ja, vielleicht.«
Sie versprach, Ben Liebermann zu grüßen. Regelmäßig anzurufen. Aufzupassen. Auf der Rückfahrt in jedem Fall vorbeizuschauen.
Das Richtige zu tun, falls sie Lončar fand.
Doch was war das Richtige?
Da war sie wieder, die Frage nach richtig oder falsch.
»Was ist das Richtige, Illi?«
Thomas Ilic zuckte kraftlos die Achseln.
Sie küsste ihn auf die Wange, stieg ins Auto. Es blieb noch genug Zeit, um zu entscheiden, was das Richtige war,
dachte sie, während sie losfuhr, sich auf den Weg nach Slawonien machte, ohne zu wissen, wohin dieser Weg sie führen würde.
24
ZWEIHUNDERT KILOMETER AUTOBAHN , die Hälfte entlang der bosnischen Grenze, parallel zur Save, dem anderen slawonischen Fluss. Kaum Verkehr, viel Sonne, ein unbekanntes Land, im Laufwerk des Radios leierten die alten Rockkassetten – kein Wunder, dachte sie, dass sich dieser Vormittag beinahe wie Urlaub anfühlte. In einer Raststätte unternahm sie den Versuch, Cappuccino
iz aparata
zu bestellen, bekam wieder Instant-Cappuccino. Die Abzweigung nach Požega, von wo aus Andreas Eisenstein vor vierundvierzig Jahren den Zug nach Deutschland bestiegen hatte, brachte mit einem Schlag die Bilder und Gefühle zurück, die ihr in den ersten Wochen in Günterstal so zu schaffen gemacht hatten. Drei Männer in Poreč nahe Požega, die sich von der eigenen Identität und Sprache zu lösen versuchten, um am Ende eines langen Leidensweges in einer fremden Identität und Sprache aufzugehen. Drei Männer, und wieder wollte ihr nicht in den Kopf, dass Antun Lončar, der Mörder Carolas und Henriettes, einer davon gewesen war.
Sie passierte Slavonski Brod, von wo aus sich die Schwarzers und die Eisensteins im
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