Im Auftrag der Väter
November 1942 nach der Umsiedlung auf den Weg nach Osijek gemacht hatten, während die anderen Schutzberger nach Polen weitergereist waren.
Slavonski Brod,
sie hatte nachgesehen: »Slawonisches Schiff«, ein weiteres kroatisches Rätsel, eine Stadt mit dem
Namen »Schiff«. Hier war der Grenzübergang nach Bosnien und Herzegowina, begann jenseits der Save die Straße Richtung Štrpci, die sie irgendwann in den nächsten Tagen mit Ben Liebermann fahren würde.
Wenige Kilometer nach Slavonski Brod verließ sie die Autobahn und folgte der Landstraße Richtung Osijek, wo die Schwarzers und die Eisensteins zwei Jahre gelebt hatten, Jahre, über die sie nichts wusste, weil sie vergessen hatte, Andreas Eisenstein zu fragen. Vielleicht war Osijek-Essegg für Lončar keine Stadt der Schmerzen gewesen wie später Valpovo, sondern ein kurzer Moment der Ruhe, trotz Krieg und ungewisser Zukunft, ein Moment Kindheit. Eine Stadt der schönen Erinnerungen, und vielleicht zählte nach so vielen Jahren voller Leid für ihn ja nur noch das.
Der erste Eindruck von Osijek war zwiespältig. Einkaufsmärkte, Reklametafeln und unansehnliche Wohnquader am Stadtrand, die Straße immer schlechter, immer wieder aufgeplatzter Teer, Risse wie Wunden im Belag. Doch plötzlich war der Blick über die Stadt für Sekunden frei, und sie sah im Sonnenlicht den schlanken roten Turm der neugotischen Kirche im Zentrum, wo sich ihr Hotel befand. Dann schlossen sich die Häuserlücken, sie wurde im dichten Autopulk in einen Kreisverkehr geschwemmt.
Thomas Ilic führte sie, die blauen Wörter, Pfeile und Linien auf der Kopie des Stadtplans.
Gegen eins checkte sie im Hotel ein, das unmittelbar am Hauptplatz der Stadt lag, ein altes, einfaches, großes Hotel in einer Reihe von Häusern mit Gründerzeitfassade – jedenfalls stellte sie sich Gründerzeitfassaden so vor. Die Rezeptionistin sprach ein wenig Deutsch, hatte Mühe mit ihrem französischen Namen, freute sich anschließend eine
Weile über den ungewohnt warmen Tag und schickte sie schließlich eine breite, gewundene Treppe hinauf. Hohe Flure, rote Läufer, das Zimmer am Ende eines langen Ganges hell, funktional und akzeptabel. Auf einem Tischchen ein großes, vollkommen überflüssiges schwarzes Ding, das sie erwartungsvoll anstarrte, wie lange hatte sie keinen Fernseher mehr gesehen geschweige denn einen eingeschaltet.
Auch dieser würde ausgeschaltet bleiben.
Der Blick ging auf den schönen Glockenturm der Kirche, den Kirchenvorplatz, Cafés mit mächtigen Markisen. Das sah doch gar nicht so schlecht aus.
Sie setzte sich aufs Bett.
Osijek.
Sie war in der Welt von Antun Lončar angekommen.
In einem der Cafés mit den mächtigen Markisen nahe der Kirche setzte sie sich draußen auf einen Stuhl mit grünem Polster, bestellte Cappuccino
iz aparata
und wartete gespannt.
Mala Kavana,
sie hatte im Wörterbuch nachgesehen, »kleines Kaffeehaus«, ein Ort, an dem sie unter anderen Umständen wohl ganze Tage verbracht hätte, mit Blick auf die rote Kirche links, den schönen Hauptplatz gegenüber, der an den Kirchenvorplatz anschloss, ein beeindruckend schönes, orangefarbenes Gebäude rechts, das ihr fast romanisch vorkam, wenn auch nicht richtig romanisch, sondern nachgemacht romanisch, und sie wusste ohnehin nicht genau, wie romanisch aussah.
Der Cappuccino kam, es war ein Cappuccino.
Über den Hauptplatz ging sie Richtung Drau. Ein fast dreieckiger Platz, für den Autoverkehr gesperrt, an den Häusergeraden fuhren Straßenbahnen entlang. Die Spitzen
des Platzes waren abgeschnitten, dort endeten und begannen die Straßen. Cafés unter Markisen auch hier, viele Tische besetzt, doch nur Einheimische, so kam es ihr vor, Touristen waren nicht zu sehen. Erst jetzt fielen ihr in vielen Fassaden beinahe faustgroße Löcher auf. Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand – Einschusslöcher noch aus dem jugoslawischen Krieg, Osijek war, hatte Alfons Hoffmann gesagt, monatelang belagert, also sicher auch beschossen worden.
Minuten später war sie an der Drau, passierte eines der wenigen hohen Häuser im Zentrum, einen fünfzehn- oder mehrstöckigen Hotelturm. Ein Flussarm ohne Ausgang als Anlegeplatz für ein paar Boote und zwei Restaurantschiffe, dahinter die Drau selbst, wenig Wasser und nicht allzu breit, fand sie, für einen Fluss, der Hunderte Kilometer hinter sich hatte von Italien bis hierher. Die andere Flussseite war überwältigend grün, sie sah Wälder, Wiesen, nur vereinzelt
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