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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Ort zum Hineingehen, Menschen, mit denen sie sprechen konnte, auf der anderen Weite, Unbestimmbarkeit, ein Ort, an dem sie allein sein konnte. So hatte sie sich diesen Abschnitt ihres Lebens eingerichtet, und es war doch eigentlich perfekt, mal hier sein, mal dort, so lange sie wollte, dann in die Mitte zurückkehren, die ein schmaler Grat war, eben die Grenze zwischen dem einen und dem anderen, nicht das eine und nicht das andere, nur ein Ort der Möglichkeiten, und so konnte man sich da schon auch mal verloren fühlen, auf diesem schmalen Grat, und sich hin und wieder nach etwas sehnen, von dem man sich ein paar Stunden später
wieder lösen wollte, um auf den Grat zurückzukehren, wo man zu Hause war ...
    Sie öffnete das Gartentürchen, in dessen Nähe die Kollegen den Zigarettenstummel gefunden hatten, der nicht von Paul Niemann und auch nicht von seiner Tochter stammte. An den Gärten führte ein Schotterweg entlang, sie trat hinaus. Paul Niemann stand noch immer im Wohnzimmer, hatte noch immer kein Licht eingeschaltet, schien sich allmählich im Grau aufzulösen. Der erste Stock dagegen war hell erleuchtet, Fenster und Balkontüren standen offen, irgendwo kniete Henriette Niemann und putzte, um den Eindringling aus ihrem Haus und ihrem Leben zu bekommen, was ihr an diesem Tag nicht gelingen würde. Er würde bleiben, selbst wenn er nie wiederkommen würde, für ein paar Wochen, ein paar Monate.
    Ihr Blick glitt über die Nachbarhäuser, wie bei den Niemanns viel Glas, viel Holz, viel Grün, Gärten, alles so hübsch und heimatlich und friedlich und doch nur einen Wimpernschlag von einem Albtraum entfernt. Wie leicht das Gefühl, dass man an einem Ort zu Hause war, zerstört werden konnte. Da drang ein Mann in einer Oktobernacht in ein Haus ein, da standen zwei Fremde an einem Sommernachmittag in einer Wohnung, und irgendetwas Fundamentales war zerstört. Als wäre das Zuhause nicht nur außen, sondern auch innen. Als würde ein inneres Zuhause zerstört, wenn die Grenzen des äußeren missachtet wurden.
    Sie wandte sich um, blickte über die Felder und Wiesen zum Schönberg hinauf. Rechts in der Ferne tollten zwei Hunde herum, ritt ein kleines Mädchen auf einem riesigen braunen Pferd, links traten Spaziergänger in den Wald, stand ein einzelner Mann. Sie fragte sich, ob Paul Niemanns Krieger von dort gekommen war, über die steilen
Äcker, aus dem Wald. Ein Krieger aus dem Wald, dachte sie, aus den Äckern, ein greiser, schlammiger Krieger, der jahrhundertelang in den Äckern gelebt hatte, an einem Samstagnachmittag aus den Äckern gestiegen war, ein Mythos, ein Archetyp, der Schatten der Menschheit ...
    Sie kicherte.
    In der Ferne ließ das kleine Mädchen das riesige Pferd in einem engen Kreis gehen, zweimal, dreimal, viermal, als wäre es ein Schoßhündchen. Aus dem Grau der Wolken sank ein Sportflugzeug, Gebell drang an ihr Ohr, obwohl die beiden Hunde verschwunden waren.
    Und der Mann stand reglos da, in ihre Richtung gewandt.
    Er war gut fünfzig Meter von ihr entfernt, blickte herüber, hätte alles sein können, ein Spaziergänger, der auf seinen Hund wartete, ein Bauer, der nach seinem Acker sah, sonstwer, aber sie wusste plötzlich, dass dies der Mann war, den sie suchten, und sie wusste auch, weshalb sie nicht einen Moment lang daran zweifelte: weil er tatsächlich den Eindruck erweckte, als wäre er schon immer ein Teil dieses Ortes gewesen, als hätte er seit Jahren dort gestanden und gewartet ...
    Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, ihre Gedanken überschlugen sich. Aber sie handelte langsam und konzentriert. Möglichst unauffällig wandte sie sich ab, kehrte in den Garten der Niemanns zurück, schloss das Türchen. Erst im löchrigen Schutz der Thujenhecke zog sie das Handy hervor.
    Alfons Hoffmann nahm sofort ab.
    »Wie bitte? Bist du sicher?«
    »Ziemlich.«
    »Was ist das bloß für ein ... Bleib weg von ihm, hörst du?«
    Sie ging auf das Haus zu, wagte nicht, sich umzudrehen. Paul Niemann stand noch immer dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, und blickte ihr entgegen. Zwei reglose Männer, dachte sie, standen einfach nur da, der eine drinnen, der andere draußen, kaum hundert Meter voneinander entfernt, und dann würde der eine losfahren nach Landwasser oder Lahr, um den anderen zu suchen.
    »Hörst du, Louise?«
    »Ja, ja.«
    »Okay, was brauchst du?«
    Paul Niemann löste sich aus der Erstarrung, kam zur Terrassentür. Auch das noch, dachte sie. Vor dem Rosenbeet blieb sie stehen,

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