Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
bald nicht mehr wissen, wer wir sind? Werden wir die Namen unserer Vorfahren vergessen und die Traditionen, die sie vor so langer Zeit für uns niedergelegt haben, auf dass wir ein ehrenhaftes und erfülltes Leben führen und in den Augen der Götter als rechtschaffen bestehen können? Jericho sollte uns eine Lehre sein! Eine kanaanäische Stadt, überrannt von Thutmosis I ., der dort eine Garnison mit ägyptischen Soldaten eingerichtet hatte, während Stellvertreter des Pharaos sich in den Häusern von Kanaanitern eingenistet und deren Geschäfte übernommen hatten. Wie viele in Jericho wissen denn noch, von wem sie abstammen oder wer sie sind? Inzwischen sollen sich die Kanaaniter in Jericho bereits in ägyptisches Leinen kleiden, die Männer sich ihre Bärte abrasieren und Schminke benutzen und die Frauen Enten und Gänse nach ägyptischer Art zubereiten, anstatt Schweinefleisch und Zicklein auf den Tisch zu bringen. In die Tempel sollen ägyptische Gottheiten eingekehrt sein – sogar das ägyptische Ritual der Beschneidung soll von Kanaanitern übernommen worden sein! Wenn Ägypten Ugarit erobert, wird unser Volk verschwinden, und dann wird es sein, als hätte es uns nie gegeben.
Diejenigen jedoch, die damals aus Jericho geflohen waren, wussten noch sehr wohl, wer sie
waren. Schon weil Avigail den Mädchen immer und immer wieder einschärfte: »Ich bin die Mutter von Elias, du bist die Ehefrau von Elias, du bist die Tochter von Elias, diese Knaben sind zum einen der Sohn, zum anderen der Enkelsohn von Elias. Und dies ist das Haus des Elias.« Und zu Baruch sagte sie: »Dein Großvater ist Elias«, zu Aaron: »Du bist der
Sohn
von Elias. Wir sind Kanaaniter und stammen von Sem ab, Noahs Sohn. Wir verehren Asherah und Baal. Vergesst das niemals.«
Als sie sich jetzt anschickte, in die Villa zurückzugehen, sah Avigail eine Gruppe von Sklaven aus der Stadt näher kommen. Sie hatten eine Sänfte geschultert, die mit kostbarem purpur- und goldfarbenem Tuch verhängt war und zweifelsfrei zum Hause des Jotham gehörte.
Auf weichen Kissen sitzend und in ein warmes Bärenfell gehüllt, an den Füßen Pantoffeln aus Schafwolle und die Hände in dicken Wollfäustlingen, verwünschte Zira im Stillen das kühle Frühjahrswetter. Ihre Gelenke schmerzten. Auch die heißen Steine, die man ihr kurz vor dem Verlassen ihrer Villa am Meer in die Sänfte gelegt hatte, trugen kaum dazu bei, die Kälte in ihren Knochen zu vertreiben.
Bei Zira machte sich das Alter bemerkbar. Die Jahre vergingen schneller als zuvor und gemahnten sie daran, dass sie mit ihren fünfundfünfzig Jahren noch immer nicht im königlichen Palast von Ugarit residierte.
Dennoch hatte sie ihre Absicht nicht aufgegeben, Yehuda auf Ugarits Thron zu verhelfen. Nachdem Elias’ Tochter sich eingemischt und Shalaaman von seinen Erstickungsanfällen geheilt hatte, war Zira mehr denn je bei einflussreichen Familien vorstellig geworden, die das Richtige tun würden, wenn sie merkten, woher der Wind wehte. Bei jeder Gelegenheit wies sie ihre Freunde darauf hin, dass Shalaaman ein König war, der in Ugarit durch Abwesenheit glänzte und seine Regierungsgeschäfte aus weiter Ferne wahrnahm. »Er lässt uns allein, bar jeden Schutzes. So etwas käme meinem Yehuda nie in den Sinn. Er ist sich seiner Pflicht bewusst. Außerdem hat er als Rab der Schriftgelehrten Einsicht in den gesamten königlichen Schriftverkehr sowie in alle Dokumente. Er weiß, wie Regierungsgeschäfte geführt werden, er versteht sich auf Diplomatie. Sollte Shalaaman dem Dämon, der die Luftröhre einschnürt, unterliegen, könnte mein Sohn in seine Fußstapfen treten, ohne dass man den Übergang wahrnehmen würde. Wer kann so etwas von sich behaupten?« Ziras Freunde stimmten ihr zu, meinten aber, Shalaaman erfreue sich doch bester Gesundheit. Seit das Mädchen, das sich darauf verstand, derartige Dämonen fernzuhalten, in seinen inneren Kreis aufgenommen worden war, habe der König keinen einzigen Anfall gehabt. Seit über vier Jahren nicht mehr!
Das änderte aber nichts daran, dass sich Ziras Gedanken Tag und Nacht darum drehten, wie man Shalaaman endlich loswerden könne. Ihn durch einen Staatsstreich abzusetzen kam angesichts der im Süden rasselnden ägyptischen Schwerter nicht in Frage. Und aus Furcht vor den Göttern wagte sie keinen Königsmord. Das Problem musste auf andere Weise gelöst werden.
Und Zira hatte bereits einen Plan.
Die Sklaven blieben stehen und setzten die Sänfte
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