Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
beschwichtigte sie sie. Als sie ihre weichen Löckchen spürte, richtete sie ein stummes Dankgebet an Asherah. In diesen dunklen Zeiten waren Baruch und Aaron zwei strahlend helle Leuchttürme. Wann immer Avigail zu verzagen drohte, brauchte sie nur dem Jauchzen der beiden zu lauschen, wenn sie durchs Haus tobten, und schon schöpfte sie neuen Mut. Sie war froh, dass Tamar seinerzeit nach Hause zurückgekehrt war und ihnen Baruch geschenkt hatte. Und ihre Schwiegertochter Hannah segnete sie für ihren mutigen Entschluss, eine Konkubine ins Haus zu holen. Für eine Ehefrau war das keinesfalls ein leichter Schritt. Aber zum Wohle der Familie hatte Hannah selbstlos ihre eigenen Gefühle hintangestellt, und jetzt waren zwei stramme Knaben auf dem besten Weg, sich zu Männern zu entwickeln.
Bei Tag und bei Nacht rankten sich Avigails Träume um die Zukunft dieser beiden Söhne aus dem Haus des Elias. Sie war dagegen, dass beide Winzer wurden. Vielleicht würde der kluge kleine Aaron ja den Anwaltsberuf ergreifen?
Ach, Elias, mein Sohn, wenn du nur hier wärst, um diese Jungen heranwachsen zu sehen! Wie viel Freude würde es dir bereiten, ihnen das Laufen beizubringen, mit ihnen zu spielen, sie zum Lachen zu bringen! Wo bist du nur, mein Sohn? Wirst du zu uns zurückkehren? Behandelt man dich gut? Mit einem erneuten Blick zu den dunklen, regenverheißenden Wolken hinauf fragte sie sich, wie es um den Himmel über Babylon bestellt sein mochte. Arbeitete ihr Sohn in einem sonnenübergossenen Weinberg? Waren die Götter Babylons ihm wohlgesinnt? Avigail wollte niemals die Hoffnung auf ein Wiedersehen aufgeben. Hatte Elias nicht selbst gesagt, irgendwann würde er sich seine Freiheit zurückkaufen und nach Hause kommen?
Nicht nur ihn hoffte sie wiederzusehen. Auch um Leahs Rückkehr betete sie täglich.
Die geliebte Enkelin zog mit König Shalaaman und seinem Hofstaat durch das Land. Es galt mit Regenten im Norden und Osten Bündnisse zu schließen, Abkommen zu treffen und Verträge zu vereinbaren. Die Berater des Königs hatten dringend empfohlen, Ugarits Stellung durch Bündnisse zu stärken, für den Fall, dass sich der junge Thutmosis entschloss, Anspruch auf die Gebiete zu erheben, die sein Großvater vor vierzig Jahren erobert hatte. Shalaaman war daraufhin mit seinem Hofstaat – einem riesigen Tross, der sich aus seiner Ehefrau, der Königin, und seinen Konkubinen zusammensetzte, aus zahlreichen Prinzen und Prinzessinnen, Ministern und Höflingen, Ärzten, Priestern, Sehern, Schriftgelehrten, Musikanten, Köchen und Artisten – zu einer Rundreise von Stadt zu Stadt aufgebrochen, während deren er um Freundschaft und Kooperation warb. Zu dem innersten Kreis des Trosses gehörte auch Leah. Seit jenem Morgen vor vier Jahren glaubte Shalaaman fest daran, sie halte den Dämon, der die Luftröhre einschnürt, von ihm fern. Und er war überzeugt, dass er ohne sie dem Dämon erliegen und sterben würde.
Deshalb hatte die Familie Leah seit über vier Jahren nicht mehr gesehen, dafür aber durch Briefe aus großen und kleinen Städten mit fremdartig klingenden Namen von ihr gehört. Trafen solche Tafeln ein, schickte Avigail nach David. Der jedoch stand nicht immer zur Verfügung; manchmal mussten sie tagelang warten, bis er sich von seinen vielen Pflichten innerhalb der Bruderschaft freimachen konnte. Wenn er dann aber erschien, war die Freude groß. Avigail empfing ihn in der Küche, setzte ihm Wein und Honigkuchen vor – beides ohne Wissen ihrer ägyptischen Dienstherrschaft beiseitegebracht –, und dann saßen sie alle David zu Füßen und lauschten Leahs Grüßen und den Neuigkeiten, die er ihnen vorlas. Avigail fehlte die Enkelin sehr, und voller Sorge fragte sie sich, ob sie sie je wiedersehen würde. Daran bin ich schuld, sagte sie sich, alles wäre anders gekommen, wenn ich an jenem verhängnisvollen Abend vor sieben Jahren Zira nicht derart brüskiert hätte.
Sie seufzte. Es brachte nichts ein, Vergangenem nachzuhängen. Außerdem – wenn es denn stimmte, dass Megiddo gefallen war, brach König Shalaaman doch bestimmt seine Reise ab, um nach Ugarit zurückzukehren. Und mit ihm käme auch Leah wieder!
Sie wollte schon ins Haus gehen, als sie nochmals innehielt und nach Süden schaute. Megiddo ist also gefallen, sinnierte sie vor sich hin. Und erst in diesem Moment begriff sie die volle Tragweite des Geschehens. Was ist, wenn auch Ugarit fällt? Nehmen dann die Ägypter unser Land ganz in Besitz? Werden wir
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