Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Fluss durchquert hatten, wies David auf einen Soldaten, der ein kupfernes Kettenhemd trug und einen Schlagstock mit einem Pferdeschwanz in der Hand hielt. »Eindeutig ein Offizier«, sagte er.
Zehn Tage lang hatten David und Nobu beratschlagt, wie sie Leah zu retten gedachten. Zunächst war ihnen das recht einfach erschienen: herausfinden, wo sie festgehalten wurde, sich im Schutze der Nacht anschleichen, sie packen und wegreiten. Ein kurzlebiges Phantasiegespinst. Je mehr Flüchtlingen sie begegnet waren, desto genauer erfuhren sie, wie riesig die Armee des Pharaos war. Umso mehr war sich David bewusst geworden, wie ahnungslos er sich mit Nobu auf den Weg gemacht hatte.
»Du da!«, rief er jetzt den Offizier in der Sprache des Niltals an. »Hauptmann! Auf ein Wort!«
Der Offizier warf den beiden Fremden einen misstrauischen Blick zu. Als er dann ihre Pferde – Prachtexemplare wie diese konnten sich nur Wohlhabende leisten – und ihre erlesene Garderobe musterte, das Gold und die Juwelen und vor allem die stolze und aufrechte Haltung des Jüngeren der beiden und dessen selbstbewussten, autoritären Ton bemerkte, befand er sie für würdig, ihnen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.
»Ich wünsche mit deinem Vorgesetzten in einer dringenden Angelegenheit im Rahmen internationaler Diplomatie zu sprechen.«
Der Hauptmann, der nie eine Schule besucht hatte und nur darin ausgebildet war, Soldaten in der Kriegsführung zu drillen, sah ihn verständnislos an.
Deshalb wies David seinen Siegelring vor. »Dies ist das Siegel der königlichen Familie von Lagasch. Ich bin ein Prinz jener Stadt und wünsche, zu deinem König, dem großen und verehrten Pharao Thutmosis, gebracht zu werden.«
Das
verstand der Hauptmann. Er starrte die Fremden einen Moment lang an
und brach dann in ein schallendes Gelächter aus. »Zwei Einfaltspinsel aus Lagasch«, grölte er, »die sich einbilden, ihre Ärsche sind besser als alle anderen!« Er klopfte sich auf seine mit einem Kettenhemd bewehrte Brust und sagte: »Ich bin der Oberste Befehlshaber der königlichen Wachen, und selbst
mir
wird keine Audienz mit dem Heiligen und Ewigen Thutmosis, dem Sohn der Götter, der Herrlichkeit der Sonne, gewährt!« Er spuckte auf den Boden und fuhr sich dann mit der Hand über den Mund. »Ich werde dir eine Audienz mit den Gitterstäben eines Käfigs verschaffen, und morgen stelle ich dich meinen Männern als Zielscheibe zur Verfügung.«
Er winkte zwei mit Speeren bewaffnete stämmige Soldaten herbei. Nobu schrie empört auf, aber David ließ sich nicht einschüchtern. »Bei euch sind kürzlich mehrere Geiseln eingetroffen, hab ich recht, Hauptmann? Aus Ugarit? Ich bin vom König jener Stadt beauftragt, mit deinem Pharao über diese Geiseln zu verhandeln.«
Dem Hauptmann verging das Grinsen, mit zusammengekniffenen Augen taxierte er den Fremden. Ein Edelmann, zweifellos. Und wohlhabend. Obendrein gebildet, denn er sprach perfekt Ägyptisch.
»Du tätest gut daran, meinem Ersuchen nachzukommen«, fügte David noch hinzu.
»Meister«, warnte Nobu erschrocken. »Es steht dir nicht zu, für König Shalaaman zu sprechen. Das könnte uns den Kopf kosten.«
»Sei still«, wies David ihn zurecht. Selbst wenn der Hauptmann mit Sicherheit kein Kanaanäisch verstand, war dies hier ein riskantes Spiel. Sollte der Schwindel auffliegen, war ihnen die Hinrichtung gewiss. Wenn David jedoch mit seinem Trick Erfolg hatte und er Leah heil nach Ugarit zurückbrachte, würde Shalaaman nicht verstimmt sein, sondern ihnen sogar eine Belohnung zukommen lassen.
»Ich muss mich mit meinem Vorgesetzten besprechen«, sagte der Hauptmann schließlich.
Leah konnte nicht abschätzen, wie viel Zeit vergangen war, seit der königliche Wachhabende sie zu diesem prächtigen blauen Zelt gebracht hatte. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Überall im Lager brannten Fackeln. Noch immer überlegte sie, ob sie weglaufen sollte, aber angesichts der vielen bewaffneten Soldaten, einige davon hoch zu Ross, würde sie nicht weit kommen.
Endlich trat ein Mann aus dem Zelt. Seine langen Gewänder aus weißem Leinen, die schwarze Perücke und die mit grüner Schminke umrandeten Augen erinnerten sie an den ägyptischen Arzt, mit dem sie sich vor sechs Jahren im Haus des Goldes unterhalten hatte. Beeindruckend sah er aus mit seinem langen Stab aus Ebenholz und Gold und seinem mit Lapislazuli besetzten Halskragen. Überraschend für sie war, dass er in perfektem Kanaanäisch
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