Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
versiert war, beobachtete er das Mienenspiel des Arztes. Hatte er ihn überzeugt?
Aber Reshef fuhr unbeeindruckt fort: »Und du bist ein Schriftgelehrter?« Er deutete auf Davids Kasten mit den Schreibutensilien, die dem von zwei Wachen flankierten zitternden und im Gesicht aschgrauen Nobu über der Schulter hing.
»Das bin ich.«
»Nun, dann bist du in die militärischen Pläne deines Königs eingeweiht und kannst sie uns jetzt zur Kenntnis bringen.«
Zwei Wachen packten David an den Armen und zerrten ihn zu einem blutverkrusteten Hackblock. Entsetzt verfolgte Leah, wie sie seine rechte Hand auf den Block drückten und der Oberste Arzt Reshef sich neben einem Kessel mit flüssigem Pech aufbaute, jener schwarzen Substanz, mit denen auch die Stümpfe der anderen Gefangenen bestrichen worden waren.
»Wir wissen von einer Anlage, in der Eisenerz geschmolzen und Metall gewonnen wird. Wie viele Waffen aus diesem Material sind bisher geschmiedet worden?«
Reshefs Frage wurde wiederum durch den Helfer mit dem langen Stab aus Ebenholz ins Kanaanäische übersetzt. Ein weiterer Wärter hielt eine Axt bereit, um auf Kommando Davids rechten Arm am Handgelenk durchzutrennen.
»Bitte nicht!«, flehte Leah. »Er weiß überhaupt nichts.«
Der Dolmetscher erachtete es als überflüssig, ihren Einwurf zu übersetzen, schon weil Reshef mit seiner Befragung fortfuhr: »Mit welchen Königen hat Shalaaman Pakte unterzeichnet? Was haben sie für den Kriegsfall abgesprochen? Plant die Allianz einen Angriff auf die ägyptischen Streitkräfte?«
Er legte eine Pause ein und musterte Davids Gesichtsausdruck. Dann wies er auf eine von Leahs Tontafeln. »Was ist das für ein Geheimcode? Wem wurde diese Nachricht überbracht? Deine Ehefrau hatte sie bei sich. Befindet sich unter den Beratern des Pharaos ein kanaanäischer Spion?«
»Hoher Herr«, sagte Leah. »Das ist kein Geheimcode. Ich kann das erklären.«
Der Oberste Arzt winkte ab. »Mich interessiert nicht, wie andere schreiben. Ägyptisch ist das einzig Wahre, werden doch unsere geheiligten Hieroglyphen ›Sprache der Götter‹ genannt.« Er wandte sich an David. »Und jetzt rück sie raus, Shalaamans Angriffspläne.«
Leah, die hilflos zusehen musste und sich gleichzeitig das Gehirn zermarterte, wie sie David die Folter ersparen konnte, überkam plötzlich das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden. Ihr Nacken begann zu kribbeln. Langsam drehte sie sich um und spähte in den im Schatten liegenden Teil des Verlieses. Irgendetwas war da. Lag auf der Lauer. Beobachtete sie.
Ihre Blicke tasteten sich weiter durch die Dunkelheit, bis sie eine Gestalt ausmachen konnten – ein grotesk aussehendes Männlein, das sie aus glänzenden Knopfaugen angaffte. Ob dieses Wesen ein Mensch war, vermochte sie nicht zu sagen. Es erinnerte sie an eine Begebenheit aus ihrer Kindheit. Auf dem Marktplatz hatten sich eine Menge Leute um die Zurschaustellung seltener exotischer Tiere geschart, die ein fremdes Schiff aus Afrika mitgebracht hatte. Da war ein Tier mit einem langen Hals, das Giraffe genannt wurde, zwei Löwen, ein schwarz-weiß gestreiftes Pferd und ein absurd missgestaltetes Wesen, das aufrecht ging und von Kopf bis Fuß behaart war. Der Händler hatte es als Schimpansen bezeichnet.
Obwohl ihr die bohrenden Blicke unangenehm waren und Angst einjagten, wandte sie sich wieder Reshef zu, vernahm seine Fragen, sah, wie stoisch David in Schweigen verharrte. Da ihr dennoch die missgebildete Gestalt in der Dunkelheit nicht aus dem Kopf ging, warf sie nochmals einen Blick über die Schulter. Aber das groteske Männlein war verschwunden.
»Wie stark ist die Armee von König Shalaaman?«, drängte Reshef erneut.
Als David noch immer nicht antwortete, gab der Oberste Arzt dem Soldaten mit der Axt ein Zeichen, worauf dieser seinen Griff um das Werkzeug verstärkte. »Ich frage dich nur noch einmal«, sagte Reshef zu David. »Wenn du dann nicht antwortest, verlierst du deine Hand.«
»Vertrauen, das man mir entgegengebracht hat, werde ich niemals missbrauchen«, sagte David schließlich. »Das habe ich beim Abschluss meiner Ausbildung zum Schriftgelehrten meinem persönlichen Gott geschworen. Lieber gebe ich mein Leben hin, als dass ich einen Eid breche.«
»Also gut.« Reshef nickte dem Mann mit der drohenden Axt zu. »Wir werden ja sehen, wie gut du mit nur einer Hand als Schriftgelehrter zurechtkommst.«
»Halt ein!«, rief Leah. »Ich kann dir sagen, was du wissen möchtest, Hoher
Weitere Kostenlose Bücher