Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
des Kerkers verblassten, wo schliefen all diese Mädchen und Frauen, wie schaffte man es, so viele zu verköstigen? Sie sah sich um. Ein paar Mädchen lachten über einem Brettspiel, eine weinte, andere brüteten vor sich hin, manche erteilten Befehle, und an einem Springbrunnen, der duftenden Nebel versprühte, fand sogar eine hitzige Auseinandersetzung statt. Alle Altersklassen waren vertreten und alle Rassen, man sah schlanke und dicke Frauen, gekleidet in die unterschiedlichsten Gewänder. Als man Leah zu einem tiefer gelegenen Bassin führte und ihr die Kleider abstreifte, kam sie zu dem Schluss, dass es sich bei einem Teil dieser Frauen wohl um Gefangene des Pharaos handelte und bei einem anderen um die Ehefrauen und Konkubinen und Kinder des Königs von Megiddo.
Welch ein Chaos, wie viel Zorn und Verbitterung und Eifersucht hier herrschen mussten! Leah wusste um die Hierarchien in Harems, wusste, dass es innerhalb dieser abgeschiedenen Mauern eine fest umrissene Ordnung gab. Neue Frauen mit eigenem Statusbewusstsein vermochten die Hackordnung einer strukturierten Welt zu sprengen.
Sie zwang sich, den Lärm und das Treiben um sie herum ebenso auszublenden wie die Schrecknisse, die sie gerade erlebt hatte. Im Moment blieb ihr nur der Genuss, sich baden und parfümieren und ölen zu lassen, in kostbares Leinen gekleidet und mit einem ägyptischen Kragen und goldenen Armreifen geschmückt zu werden. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wem das, was man ihr anlegte, gehört haben mochte. Sie wollte nur wieder mit David zusammen sein und irgendwie diesem Albtraum entfliehen.
Als sie bereit war, öffneten ihr zwei Eunuchen – übergewichtige Kanaaniter mit dicken Wänsten und fetten Brüsten und nicht weniger parfümiert als die Frauen im Harem – das Hauptportal, das sie bewachten. Sie wurde bereits von Reshef sowie von David und Nobu erwartet, beide gewaschen und frisiert. Ihre Körper dufteten nach parfümierter Seife, und bekleidet waren sie mit den reich bestickten schweren Gewändern der Kanaaniter aus Megiddo. »Wie geht es dir? Besser?«, fragte Leah ihren Liebsten.
Aber es war Nobu, der antwortete. »Sie wollten sich an der Frisur meines Meisters erproben, dabei weiß doch jeder, dass die Ägypter sich den Schädel rasieren und eine Perücke tragen und ihre Barbiere sich nur darauf verstehen, Kinnladen und Schädel glatt abzuschaben! Keinen von denen hab ich an meinen Meister rangelassen.«
»Nobu«, seufzte David, »dein loses Maul bringt uns noch mal um Kopf und Kragen. Reiß dich gefälligst zusammen und halt den Mund, wenn wir jetzt vor den Pharao treten.«
Da sie während der letzten vier Jahre als Teil von Shalaamans Hofstaat vielen Anlässen in Thronsälen beigewohnt hatte, wusste Leah, dass nur Mitglieder des Königshauses und des Adels ausersehen waren, als Ehrengäste vor dem König zu erscheinen. Es waren also Davids königliches Blut und Leahs berühmter Vorfahr Ozzediah, die ihnen diese Audienz ermöglichten. Wenn aber die Wahrheit über ihre eigene Herkunft herauskam – dass sie nicht von Ozzediah abstammte, sondern eine Habiru war? Dann werden unsere Nacken auf dem Hackblock liegen, und diesmal wird es keine in roter Farbe gezogene symbolische Linie geben.
Wie im Harem – vermutlich wie im gesamten Palast und auch in der Stadt – herrschte im Thronsaal ein unbeschreibliches Durcheinander. Da waren Abgesandte aus nahe gelegenen Städten und Provinzen, die um Aufmerksamkeit buhlten und darauf aus waren, sich vor dem Eroberer zu verbeugen. Hofschranzen, die wichtigtuerisch mit Schriftrollen und Tontafeln hin und her eilten. Generäle, die mit ihresgleichen diskutierten. Auf dem Boden kniende nackte Kriegsgefangene, ihre auf dem Rücken gefesselten Hände mit ihren Fußknöcheln verbunden.
Nicht zu übersehen waren die neuen Götterstatuen, die man gegen die Götter von Megiddo ausgetauscht hatte; sie standen auf Sockeln, zu ihren Füßen wurde Weihrauch verbrannt, und ihre Köpfe waren die von Schakalen und Katzen und Käfern. Einer der Götter war als Flusspferd in aufrechter Haltung dargestellt; dann gab es da noch eine barbusige Frau, aus deren Kopf Kuhhörner wuchsen, sowie Abbildungen von Falken, Habichten und Geiern, von Pavianen und Krokodilen. Die drei Besucher aus Ugarit vermuteten, dass dies hier nur die erste von vielen Städten war, die dem ägyptischen König zufallen würden. Letztendlich zielte sein Kriegszug wohl auf Babylon. Und das Tor zu dieser sagenhaften
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