Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
von pharaonischen Truppen, die grausam straften, machten die Runde. Aufständische wurden entweder sofort erschlagen oder ins ständig anwachsende Lager der zukünftigen Bauarbeiter des Pharaos zurückgeschleppt.
Wenn er Ugarit erreicht, wird dort das Gleiche geschehen, dachte Leah.
Über die verkohlten Felder hinweg sah sie eine Gruppe von Frauen, die an dem kleinen Fluss hockten und Wäsche ins Wasser tauchten, um sie dann mit Steinen zu schrubben. Wahrscheinlich handelte es sich um Kanaaniterinnen oder Habiru, denen in Ägypten ein Leben in Knechtschaft bevorstand. Sie dachte an die Habiru-Konkubine Sarah, von der Rakel auf ihrem Sterbebett gesprochen hatte, Avigails leiblicher Mutter, die nach der Niederkunft zu ihrem Volk zurückgeschickt worden war. Hatte sie noch mehr Kinder geboren? Befanden sich Nachkommen dieser Habiru etwa in diesem Gefangenenlager? Diese zerlumpten und halb verhungerten Frauen – sind das meine Cousinen?
»Sprich ein Gebet«, murmelte Pakih. »Da kommt der ägyptische Hund.«
Sie wandte sich ab. Um diese armen Kreaturen da unten am Wasser konnte sie sich nicht kümmern, sie musste sich darauf konzentrieren, zusammen mit David irgendwie aus Megiddo heraus und zurück nach Ugarit zu kommen. Je häufiger sie erlebte, wie Familien auseinandergerissen wurden, desto wichtiger wurde es für sie, ihre eigene wieder zu vereinen. Als Pharaos Oberster Königlicher Arzt hatte Reshef freien Zutritt zum Harem, in dem er tagtäglich auftauchte, um sich nach dem Befinden der Ehefrauen und Konkubinen und Kinder von Thutmosis zu erkundigen und Leah über den Inhalt der achtzehn Tafeln zu befragen.
Den königlichen ägyptischen Schriftgelehrten war es zwar gelungen, die Tafel mit der Baldrian-Rezeptur und auch das Liebesgedicht zu entziffern, nicht aber die restlichen Heilbehandlungen, darunter die für die Austreibung des Dämons, der die Luftröhre einschnürt, die David vor vier Jahren aufgezeichnet hatte. Weil all ihre Versuche, die neue Schrift zu entschlüsseln, fehlgeschlagen waren, erschien Reshef jeden Tag und bat Leah, ihm den Inhalt der Tafeln zu übersetzen.
Rein aus Neugier, behauptete er, jeder wisse doch, dass die ägyptische Medizin allen anderen überlegen sei. Leah indes schwieg sich aus. Als sie Reshef von ihrem Bemühen berichtet hatte, eine Heilbehandlung gegen die Fallsucht in Erfahrung zu bringen, und dass sie deswegen bei Heilern in den großen und kleinen Städten entlang des Euphrats vorstellig geworden war, hatte er sie gebeten, ihm ihre dort erworbenen Kenntnisse zu vermitteln. Ein paar Rezepturen hatte sie ihm verraten, dann aber gemerkt, dass Reshef gar nicht daran dachte, ihr im Gegenzug etwas über ägyptische Heilmethoden zu verraten, und von da an Vergesslichkeit vorgeschützt. So wie David verheimlichte, dass er die Sprache der Ägypter beherrschte, damit seine Häscher in seiner Gegenwart ganz ungezwungen miteinander redeten, fand auch Leah, dass es sich irgendwann auszahlen könnte, wenn sie die medizinischen Formeln, die sie auf ihren Reisen mit König Shalaaman gesammelt hatte, für sich behielt.
Der Oberste Arzt näherte sich so leise, dass Leah sich fragte, ob er das Anpirschen auf Zehenspitzen übte, um andere belauschen zu können. Jetzt führte er sich die Hand mit dem Handteller nach außen vors Gesicht und sprach Worte, die Pakih mit »Ich bin vor Unbill geschützt« übersetzte. Dann sagte er: »Du hast mir berichtet, dass du anlässlich deines Besuchs beim König von Harran von einem seltenen Heilkraut erfahren hast, das auf einer Insel im Euphrat wächst.«
Während Pakih übersetzte, betrachtete Leah das Auge des Horus auf Reshefs Brust, über das Pakih sie aufgeklärt hatte. »Die Ägypter glauben«, hatte er gesagt, »dass vor langer, langer Zeit der böse Gott Seth dem Horus die Augen auskratzte und er blind wurde. Man rief Thot den Heiler, und der schenkte Horus das Augenlicht wieder. Seither gehören Thot der Heiler und Horus der Geheilte zu den am meisten verehrten und mächtigsten Göttern. Männer tragen das Auge, um bösen Dämonen kundzutun, dass sie unter dem Schutz des Geheilten stehen.«
Ein schönes Symbol, das Auge des Horus, befand Leah. Gefertigt aus Gold und herrlich blauem Lapislazuli, wies das Auge ein kleines unteres und ein gewölbtes oberes Lid auf; die anmutig geschwungene Augenbraue verlief parallel zum Oberlid, und aus dem inneren Augenwinkel löste sich, einen eleganten Aufwärtsbogen beschreibend, eine Träne. Ein
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