Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
kommt …
Asherah!, flehte Leah im Stillen. Gewähre mir ebensolche Stärke. Wenn einer Sterblichen göttliche Stärke eingeflößt werden kann, kann sie dann nicht auch einer weiteren gewährt werden? Verleih mir Kraft, gnädige Asherah. Sei mit mir, jetzt, du Mutter Aller. Erhöre die Bitte deiner ergebenen Tochter. Ich muss mich verteidigen, aber ich habe Angst.
Sie merkte, dass Hatschepsut sie anschaute; es war unmöglich, sich dem durchdringenden Blick der tiefliegenden Augen, die, einem Habicht gleich, starr auf sie gerichtet waren, zu entziehen. Ihr Blick war beeindruckend. Es schien, als könne die große Königin ihr durch Haut und Fleisch und Knochen hindurch direkt in die Seele schauen. Leah stand im Auge der Sonne.
Sie will, dass ich spreche. Sie gibt mir die Kraft, mich zu rechtfertigen.
Um sich zu beruhigen, atmete sie tief durch: »Du Strahlende«, hob sie dann an, »du Tochter des Amon-Re, Tochter der Sonne, Trägerin der Doppelkrone Ägyptens …« Sie wusste nicht, wie sie fortfahren sollte, hatte aber genügend Zusammenkünfte zwischen König Shalaaman und anderen Monarchen erlebt, um zu wissen, dass zu Beginn überschwängliche, ausführliche Huldigungen erwartet wurden.
Zunächst übersetzte niemand. Nach einem kollektiv entsetzten Schnappen nach Luft erstarrten die Versammelten und warteten auf eine Reaktion der Königin. Nicht einmal Reshef sagte etwas, rührte sich ebenso wenig wie die Wachen zu beiden Seiten des unverschämten Eindringlings.
»Deine Strahlkraft blendet mich«, fuhr Leah fort. »Dein Ruhm blendet die Welt, große und herrliche Tochter der Götter. Es war nicht meine Absicht, es deiner erhabenen Gegenwart an Respekt fehlen zu lassen. Ich bin gekommen, um dem lebenden Gott Ägyptens Ehrerbietung zu erweisen.«
Dass Hatschepsut schwieg, ihre Augen aber weiterhin unbeweglich auf ihr ruhten, verriet Leah, dass die Königin jedes ihrer Worte verstand.
Mit wachsendem Mut fuhr sie deshalb fort: »Ich bin keine Bürgerliche, Majestät. Ich bin keine gewöhnliche Frau. Mein Urgroßvater war mit einer Tochter des großen Königs Ozzediah verheiratet. Ich selbst bin die Ehefrau eines Prinzen aus dem Königshaus von Lagasch.« Und indem sie sich tief verneigte, sagte sie: »Dennoch erniedrige ich mich vor deiner herrlichen und glorreichen Majestät.«
In dieser tiefen Verbeugung verharrte sie, den Blick auf den erlesenen Teppich zu ihren Füßen gerichtet. Die Militärs, die Priester und Magier und die in geheiligte Leopardenfelle gehüllten Berater schwiegen beharrlich. Leah spürte die Blicke aller auf sich ruhen. Aus den Augenwinkeln konnte sie das Flackern der Fackeln in der weihrauchgeschwängerten Luft wahrnehmen. Mit angehaltenem Atem erwartete sie jeden Augenblick den Befehl zur Hinrichtung, um dann die kehlige Stimme auf Kanaanäisch sagen zu hören: »Ich kenne dich, ich kenne deinen Namen.«
Verwirrt schaute Leah auf und sah, wie sich Hatschepsut eine Hand mit der Handfläche nach außen vors Gesicht hielt. Sie wiederholte, was sie eben gesagt hatte, und fügte dann hinzu:
»Au-à rekh kua-ten. Rekh kua ren-ten.«
Was nach Leahs Vermutung die Übersetzung ins Ägyptische war.
»Ich komme mit Geschenken, du Strahlende«, sagte Leah, von neuem Selbstvertrauen durchdrungen. »Meine Tante Rakel erreichte das hohe Alter von siebenundachtzig Jahren; bis zu dem Tag, da sie zu den Göttern ging, war sie kerngesund. Sie maß ihr langes Leben einem Tonikum bei, das sie jeden Morgen einnahm und dessen Zusammensetzung mir bekannt ist.«
Sie hielt inne, während ihre Gedanken rasten. Warum, so fragte sie sich, hätte Hatschepsut ihren eigenen Tod inszenieren sollen? Andererseits: Obwohl sich die Königin als König bezeichnet und sich ihrem Volk in Männerkleidern und mit einem falschen Bart gezeigt hatte, gab es offenbar Grenzen für ihre Hybris. Überall auf der Welt wurden Monarchen auf ihren Monumenten stets als heldenhafte Eroberer abgebildet, und die ägyptischen Könige machten da keinen Unterschied. Hatschepsut hatte wohl eingesehen, dass ihr Volk kaum das Bild einer Frau akzeptieren würde, die eine Keule schwingt und ihren Feinden die Schädel zertrümmert. Um in die Schlacht zu ziehen, musste sie im Verborgenen bleiben. Also hatte sie gewartet, bis ihr Neffe alt genug war.
»Weise und mächtige Tochter des Amon-Re, deren Strahlkraft diese demütige Dienerin aus Kanaan blendet, ich befürchte, dass, sollte dein Stiefsohn mit einer Armee Ugarit überfallen, mein
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