Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Warum sie es so hielten, wusste David zwar nicht, aber seiner Vermutung nach hatte es etwas damit zu tun, dass Papier verbrennen konnte, gehärteter Ton jedoch auf ewig Bestand hatte und somit ein Beweis dafür war, wie rasch Herrscher ihre Abkommen und Zusagen vergaßen.
Auf ihrem Weg hatten sie Dörfer überfallen, Lebensmittel, Vieh und Wagen konfisziert und die kampffähigen Männer mitgenommen. Dennoch hatten sie bislang nur glanzlose Scharmützel ohne große Beute für die Truppen geführt, und je länger sie unterwegs waren, umso missmutiger und mürrischer wurden die Soldaten.
Und David? Er war zwar ein Prinz, verstand zu jagen und zu reiten und einen Streitwagen zu lenken und war geübt im Kampfsport Zh’kwan-eth, aber an einem Krieg, an einer Schlacht hatte er noch nie teilgenommen. Dennoch entging ihm nicht, dass die Verdrossenheit der Soldaten des Pharaos immer deutlicher zum Ausdruck kam. Sie waren schließlich nicht freiwillig hier, und nach einem Marsch, der sich über so viele Tage erstreckte, verwandelten sie sich in eine unzufriedene, ständig nörgelnde Armee. Mit hängenden Schultern trotteten die Fußsoldaten dahin, hielten ihre Waffen nach allen Richtungen, und statt im Gleichschritt zu marschieren, wirkten sie kaum noch wie militärisch gedrillte Männer. Wie war es dieser Horde, der es so offensichtlich an Begeisterung und Einsatzbereitschaft mangelte, gelungen, die kanaanäische Armee bei Megiddo zu schlagen? Und wie konnte Pharao Thutmosis darauf bauen, dass sie sich auch gegen die Habiru, die als wild und stolz und blutrünstig galten, als siegreich erweisen würden? David mutmaßte, dass die Ägypter beim ersten Trompetenstoß ihre Waffen fallen lassen und in die Berge flüchten würden.
Bei Shubat, fragte er sich zum ersten Mal seit dem Aufbruch in Megiddo, werden wir die uns bevorstehende Schlacht überleben?
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als weiter vorn eine Trompete erschallte und der Trupp abrupt zum Halten kam. Um einen Hügel herum sah er Berittene näher kommen – Kundschafter, die der Pharao vorausgeschickt hatte –, die Thutmosis hastig Meldung erstatteten. Befehle klangen über das Feld, die Truppen wurden in Reih und Glied geordnet versammelt, Offiziere trieben die Widerspenstigen in Habtachtstellung. David tauschte einen besorgten Blick mit Nobu, der still neben seinem Wagenlenker verharrte.
Pharao Thutmosis stand in seinem platinbeschlagenen Streitwagen und breitete die Arme aus, bis sich Schweigen über die vielköpfige Armee senkte. Nur noch der Schrei eines Habichts hoch droben am Himmel war zu vernehmen.
»Soldaten Ägyptens!«, rief Thutmosis mit einer für den körperlich so gedrungenen König erstaunlich lauten Stimme, die gleich dem Klang einer riesigen Trompete vom Wind überallhin verbreitet wurde und selbst noch von der Kavallerie am Ende der Kolonne zu vernehmen war.
»Am heutigen Tag führe ich euch in die Schlacht. Meine Kundschafter berichten, dass die Habiru jenseits der Berge ihr Lager aufgeschlagen haben. Zahlenmäßig entsprechen sie den Sandkörnern in der Wüste, den Sternen am Firmament. Sie sind also weit mehr als wir, weshalb es jeder von euch mit zehn Männern aufzunehmen hat. Dennoch sind die Habiru nichts im Vergleich zu euch, den Kriegern des Landes Kem! Sie sind wie Kinder und alte Weiber im Vergleich zu den Kämpfern des Amon-Re, des größten Gottes überhaupt!«
Thutmosis stieß einen Arm gen Himmel. »Heute führe ich euch zum Ruhm! Ab heute werden die Götter eure Namen kennen, sie werden euch als die mächtigsten Krieger weit und breit lobpreisen. Wenn ihr heute fallt, werdet ihr ins Westliche Land übertreten, und Anubis persönlich wird euch den Weg weisen. Eure Herzen werden auf der Waage der Wahrheit für wert befunden werden, eines Nachlebens würdig zu sein, das ihr euch nicht einmal vorstellen könnt!«
Die Soldaten grinsten einander zu und nickten.
»Wenn ihr heute fallt, werdet ihr zu den Strahlen der Sonne emporgehoben werden. Ihr werdet auf ewig im Sonnenschiff verweilen, süßen Wein trinken, wunderschöne Jungfrauen werden sich eurer annehmen. Dies wird eure Belohnung sein, wenn ihr heute Ägyptens Gegner besiegt.«
Eifriges Murmeln der Soldaten untereinander.
»Wenn ihr aber heute nicht fallt«, rief der König, »wenn ihr tapfer kämpft und diese Ebene mit dem Blut der Habiru tränkt, wird euch bei der Rückkehr nach Ägypten ein triumphaler Empfang bereitet. Eure Mütter und Ehefrauen werden euch
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