Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
ebenfalls keine Bürgen hatten.«
»Tatsächlich?« Davids Interesse war geweckt. Umging man hier die Tradition der Bürgschaft etwa dadurch, dass man Schriftkundige aufnahm, die mittels einer Prüfung den Beweis erbrachten, dass sie anstellig und flink, von hoher Moral und Ehrsamkeit waren? Eine solche Prüfung würde er ganz bestimmt bestehen!
»Erlaube mir, dich herumzuführen«, sagte Yehuda liebenswürdig, »und wenn du dann wirklich bei uns eintreten möchtest, werde ich dir sagen, wie das geregelt werden kann.« Er legte eine Pause ein, musterte Davids nackten Arm. »Eine Frage«, sagte er. »Was hat dieser Dolch zu bedeuten? Bist du ein Schriftgelehrter und Krieger? Eine solche Kaste gibt es bei uns nicht.«
»Ich kämpfe nicht«, sagte David wahrheitsgetreu. »Der Dolch ist rein symbolisch.«
Sie betraten die Wohnstätte der Brüder, ein zweigeschossiges Gebäude mit Privatzimmern. Durch die geschlossenen Türen war Musik und das Lachen von Frauen zu hören. David hätte schwören können, dass es darüber hinaus nach gebratenem Fleisch – Schwein und Lamm – roch. Als sie an einem Schrein vorbeikamen, auf dessen Altar ein Gott thronte, stellte er fest, dass die reinigende Flamme erloschen und der Weihrauch erkaltet war, und er meinte seinen Augen nicht zu trauen, als ihnen ein Schriftkundiger entgegenkam, auf dessen Rock eindeutig ein Weinfleck prangte.
Sie betraten ein Archiv mit verstaubten Regalen und Tischen, auf denen Federn und Tinte, Papyrus, Stiften und Ton lagen. Welch ein heilloses Durcheinander! Die Tafeln in den Regalen türmten sich kreuz und quer aufeinander, einige waren sogar zerbrochen! Jetzt schlurfte ein ungemein dicker Schreiber herein und schmiss eine Tontafel auf einen bereits überladenen Stapel im Regal, ohne darauf zu achten, wo sie landete. Nichts hier schien geordnet zu sein. Tafeln lagen auf dem Boden, schienen einfach dort fallengelassen worden zu sein. David war empört. Eine Schande war das!
Das Schändlichste jedoch war, wie mit dem berühmten Emblem der Bruderschaft umgesprungen wurde, einer Scheibe, aus deren Umkreis gleich einer feurigen Sonne überall Flammen aufloderten und aus deren Mitte ein großes menschliches Auge starrte. Ein Symbol, das so alt war, dass seine Herkunft und Bedeutung im Dunkel lag. David mutmaßte, dass es eine Sonnengottheit darstellte. Diese wurde allerdings nicht verehrt, wie er beobachten konnte. Während seines Rundgangs mit Yehuda hatte er dieses Symbol überall gesehen, an Säulen, auf Wänden und Türpfosten, alle verstaubt, abgesplittert, vernachlässigt und demnach nicht respektiert.
Er war bestürzt. In Lagasch waren die Schriftgelehrten stolz auf ihr Symbol und erwiesen ihm, wann immer sie daran vorbeikamen, durch eine Geste oder ein ehrerbietiges Wort Respekt. Das Symbol einer Bruderschaft war wie der Mittelpunkt eines weit gespannten Netzes, in dem alle Fäden zusammenliefen. Sobald dieser Mittelpunkt eine Schwachstelle aufwies, zerfiel das Netz.
Aber es bedeutete noch mehr als das. Wie das geschriebene Wort besaß ein Symbol – ob in Ton oder Stein geritzt oder auf Holz gemalt – eine eigene Macht. Bereits beim Ausgestalten eines Symbols wurde das, was ihm innewohnte, geweckt und übertrug seine Macht auf den, der es zu würdigen wusste. Beim Sonnenauge der Bruderschaft hingegen schien es so zu sein, dass die Brüder in ihm nicht mehr sahen als Ton oder Stein oder bemaltes Holz.
Wie gelähmt war David vor Entsetzen. Wo blieb der Respekt vor ihrer heiligen Berufung? Deshalb beantwortete er Yehudas Frage: »Möchtest du noch mehr sehen?« mit der Gegenfrage: »Zu welchem Gott beten die Brüder vor Beginn des Diktats?«
»Zu welchem sie wollen oder zu gar keinem. Derart strenge Regeln gibt es hier nicht. Den Brüdern steht es frei, so zu leben, wie es ihnen beliebt. Eine Regel jedoch muss eingehalten werden: Wenn ein Schriftkundiger für seine Dienste entlohnt wird, hat er einen Teil des Honorars an die Bruderschaft abzuführen.«
»Wie ist der Tag eingeteilt?«
Yehuda hob eine Braue.
»Wann wird gebetet?«, hakte David nach. »Wann stehen die Brüder morgens auf? Wann ist Essenszeit? Wann beginnt die Nachtruhe?«
»Bei uns geht es nicht so zu wie in anderen Häusern, wo man die Brüder einem militärischen Reglement unterwirft. Jeder lebt so, wie er möchte.«
»Wird mir gestattet sein, die heilige Bibliothek aufzusuchen, sobald ich Mitglied bin?«
»Du warst bereits dort.« Yehuda deutete auf den Raum, den sie eben
Weitere Kostenlose Bücher