Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
verlassen hatten.
David war es, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Dieses verstaubte Durcheinander von Tafeln und Papyrus sollte die
geheiligte Bibliothek
sein? »Aber wo«, fragte er und spürte, wie sich seine Brust verkrampfte, »würde ich dort zum Beispiel die Chronik der Schöpfung finden? Ich habe keinerlei Beschriftung, keinen Katalog gesehen.«
Yehuda zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe noch nie danach gesucht.«
»Wem untersteht denn die Bibliothek?«
»Mehr oder weniger uns allen.« Er musterte David eingehend. »Möglicherweise ist unsere Bruderschaft nicht das, was du suchst. Du scheinst ein strukturierteres Leben zu bevorzugen.«
»Bei Shubat! Nein, nein, ich möchte noch immer bei euch eintreten. Wenn ich mich qualifiziere.«
»Qualifiziere? Wie meinst du das?«
»Nun, die Prüfungen, die ich sicherlich ablegen muss …«
Yehuda lächelte. »Prüfungen gibt es nicht. Erforderlich für die Aufnahme ist einzig und allein ein Maß Gold.«
»Gold? Ihr wollt nicht meine Befähigung überprüfen?«
Wieder zuckte Yehuda mit den Schultern. »Wir haben hier alle möglichen Talente und Bildungsstufen. Manche sind geschickter als andere. Wenn du zu uns kommst, werden wir dir Arbeiten zuweisen, für die du dich am besten eignest.«
David hätte am liebsten laut aufgeschrien. Stattdessen fragte er: »Aber woher willst du wissen, ob ich überhaupt schreiben kann?«
Yehuda sah ihn lediglich aus seinen tiefliegenden Augen vielsagend an, und David überlief es kalt, als ihm klarwurde, dass die Mitgliedschaft der elitären Bruderschaft käuflich war – von Männern, die kaum oder überhaupt nicht dazu befähigt waren!
Ihm wurde übel. Wo waren Ehre und Stolz abgeblieben? Wo die unerlässlichen
Voraussetzungen, die diese Bruderschaft über alle anderen erhob?
Das Symbol der feurigen Scheibe, vernachlässigt und entehrt.
»Verzeih mir«, würgte er heraus, »ich muss zu einer Verabredung … Ich werde darüber nachdenken.« Fast taumelnd trat er den Rückzug durch die Säle und Korridore an, durch die Essensgerüche und Parfümdüfte waberten, Flötenspiel und Lachen zu hören waren, vorbei an beleibten Männern, die so stanken, als hätten sie wochenlang nicht gebadet. Bloß nicht mehr an die verwahrloste Bibliothek denken, an den Staub und die Spinnweben, an die zerbrochenen Tafeln, an das Durcheinander schriftlicher Aufzeichnungen, die die alte Sammlung der Prophezeiungen sein konnten oder die Besitzurkunde eines Schafzüchters!
Er stolperte hinaus in die blendende Sonne auf dem Hof, wo Ärzte und Anwälte und Schriftkundige gegen Gold ihren Beruf ausübten, wo einfache Bürger mit ihren Nöten und Anliegen vorsprachen, ahnungslose Männer und Frauen, die diese Gelehrten als ehrenhaft und von hoher Moral erachteten – waren die Anwälte und Ärzte etwa besser als die des Schreibens und Lesens Kundigen? –, und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Alles um ihn herum schien über ihm zusammenzustürzen, sein Traum zerbrach vor seinen Augen, der Schmerz, seinen Gott zu enttäuschen, griff ihm ans Herz.
Er fand die Straße, die aus Ugarit hinausführte, und schlug sie ein. Dunkelheit nistete sich in seiner Seele ein. Gab es etwas Schlimmeres als Ernüchterung, den Zusammenbruch seiner Ideale zu erleben? Tränenblind, wie er war, schwor er sich, nach seiner Lehrzeit bei Elias das korrupte Ugarit zu verlassen und mit Nobu und Shubat in eine Stadt zu ziehen, in der niemand ihn kannte. Ich werde mein Schild aushängen, gelobte er, und mir einen Kundenkreis von ausschließlich Wohlhabenden und Einflussreichen aufbauen. Ich werde ein reicher Mann werden und nie wieder jemanden »Bruder« nennen.
Was hatte David heute Morgen vorgehabt, als er in seinem besten Gewand aufgebrochen war?, fragte sich Leah. Nobu war nach kurzer Zeit allein zurückgekommen, was ungewöhnlich war. Sie versuchte, nicht weiter an ihn zu denken und sich als gute Ehefrau zu erweisen. Aber das war schwer. Wenn Caleb wenigstens leidenschaftlich wäre, Gefühl zeigte,
irgendetwas.
Aber er verhielt sich ihr gegenüber gleichgültig, so als wäre sie ein Tisch oder ein Stuhl.
Sie näherte sich dem Gartentor. Heute Morgen, als Tante Rakel ihr tägliches Tonikum zu sich nahm, hatte sie gesagt: »Myrrhe eignet sich am besten, um böse Geister davon abzuhalten, eine Wunde zu infizieren. Die Pflanze ist heilig, deshalb ist ihr Gummiharz das richtige Pflaster, um die Heilung zu beschleunigen.« Deshalb
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