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Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Titel: Im Auge der Sonne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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wanderten und wurden länger, die sanften grünen Hügel färbten sich golden und dann violett, während David weiterhin gebannt dieses Wunder verfolgte. Gemächlich und dennoch zielstrebig streifte die Schlange in hypnotisierend wellenartigen Bewegungen ihre äußere Haut zum Körperende zurück, wo sie sich zusammenrollte und zusehends dicker wurde, gleich einem Stoffband aus mehreren Lagen, das man sich um den Kopf schlingt. Die Hitze des Tages schwand. Die Blumen schlossen sich langsam. Es dunkelte bereits. Und der Wulst aus toter Haut wurde dicker, je weiter er sich über den Schlangenkörper nach hinten schob.
    Mit angehaltenem Atem verfolgte David, wie die Schlange das letzte Stück ihres alten Lebens von dem schimmernden Körper ihres neuen abstreifte und dann langsam, so als wäre sie stolz oder erschöpft, unter einem Busch verschwand und er mit den Überresten eines unsterblichen Wesens zurückblieb.
    Eine ganze Weile lang hatte er das Gefühl, zwischen Wirklichkeit und dem Übernatürlichen gefangen zu sein. Wie lange er dort gestanden und das Wunder mitangesehen hatte, vermochte er nicht zu sagen. Aber anstatt sich steif oder müde oder hungrig zu fühlen, war er unerwartet von Euphorie erfüllt.
    Es war, als hätte Shubats Hand ihn berührt.
    Er wollte die abgestreifte Haut aufheben – was für eine wertvolle Trophäe! –, hielt aber jählings inne. Weil man Schlangen für unsterblich hielt, waren sie heilig. Dementsprechend war auch ihre Haut heilig und musste liegengelassen werden, um sich zu zersetzen und zur Erde zurückzukehren.
    Er wandte sich der Statue auf dem Stein zu, die in der zunehmenden Dunkelheit kaum noch auszumachen war. »Ich danke dir, hochverehrter Gott, dass du mir diesen Tag voll neuer Hoffnung geschenkt hast. Ich war niedergeschlagen, und du hast mich mit einem Wunder wieder aufgerichtet.«
    Da hatte sich eine Schlange unter den Augen eines menschlichen Wesens gehäutet, sich einem eingeschworenen Feind gegenüber verletzlich gezeigt – sie war ja nicht weggekrochen, um im Stillen ihr Werk zu verrichten, sondern hatte die Anwesenheit eines Menschen zugelassen, der sie hätte erschlagen können!
    Zweifellos ein Zeichen von Shubat.
    Und David wusste es zu deuten: Wie auf den Winter das Frühjahr folgt, hatte Shubat ihn an die ständige Erneuerung des Lebens erinnert, an den großen und heiligen Zyklus des Lebens. Und so, wie die Erde starb und wie die Schlange wiedergeboren werden musste, wie ein Tag von der Nacht verschlungen wird und als Tag wiederersteht, musste auch anderes der Verderbnis anheimfallen, ehe es neues Leben empfing.
    Die Bruderschaft.
    Dies
war seine Berufung. Er sollte der Bruderschaft dazu verhelfen, sich zu erneuern. Shubat gab ihm zu verstehen, dass es nicht genügte, der Rab der Bruderschaft und Wächter der heiligen Bibliothek zu sein, sondern dass es Davids Aufgabe war, die Bruderschaft wieder zur Rechtschaffenheit zurückzuführen, zur Reinheit und Redlichkeit. Dass sie wie die Schlange wiedergeboren werden musste.
     
    Sie stand oben auf dem Dach und schaute auf die Lichter der Stadt.
    Nach Sonnenuntergang wurden in jedem Haus, von der einfachsten Hütte bis hin zum königlichen Palast, Fackeln, Kerzen und Lampen entzündet, um den gefürchteten Geistern zu verstehen zu geben, dass die Häuser, an denen sie nachts vorbeikamen, bewohnt und für sie tabu waren. Dementsprechend funkelte ganz Ugarit, als wären die Sterne vom Himmel gefallen, um die Stadt zu erhellen.
    Während Leah vom Dach des Hauses auf die Lichter hinunterblickte, lastete das Unglück, das ihrem Vater, das der Familie zugestoßen war, bleischwer auf ihr. In der Stadt lästerte man über sie. Esther weinte jeden Tag. Avigail stritt sich ohne Unterlass mit Elias. Und Leah selbst war von ihrem Ehemann verlassen worden.
    Auf ein Geräusch hin drehte sie sich um. David!
    Seine Augen glänzten eigenartig, als er auf sie zukam. »Leah«, sagte er leise, »ich habe dir etwas zu erzählen.« Langsam, fast stockend berichtete er ihr von seinem enttäuschenden Besuch bei der Bruderschaft und seinem zerbrochenen Traum. Dann, mit wachsender Überzeugung, sprach er von der Schlange und der Botschaft von Shubat. »Ich war außer mir, als ich die Bruderschaft verließ. Aber Shubat hat mir die Augen geöffnet, und jetzt weiß ich, dass meine schriftgelehrten Brüder vom Weg abgekommen sind und jemanden brauchen, der sie zurück in ein Leben voller Respekt und Ehrsamkeit führt. Sobald mir gelingt, ein

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