Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
sprechen gekommen. Sie musste dann unwillkürlich an ihr Elternhaus in Jericho denken und auch an ihre Mutter, die aus Ugarit stammte und ihr die Blutlinie von König Ozzediah vererbt hatte. Die Familie ihres Vaters hingegen hatte seit Generationen in Jericho gelebt, in dem Haus, das ihnen in einer einzigen grauenvollen Nacht genommen worden war. Deshalb hatte sich Avigail geschworen, sich nie wieder aus ihrem Zuhause vertreiben zu lassen. Nicht von Ägyptern und ganz gewiss nicht von Jotham und Zira.
»Ist es wahr«, fragte Hannah, »dass Ägypter die Vorhaut ihrer männlichen Säuglinge beschneiden? Bei den Habiru soll das auch üblich sein.«
Avigail warf ihrer Schwiegertochter einen beschwörenden Blick zu. »Hannah, Liebes, könnten wir bitte das Thema wechseln? Wo steckt eigentlich Tamar? Sie vernachlässigt ihre Weberei. Esther, schau doch mal nach deiner Schwester. Sie drückt sich in letzter Zeit vor der Arbeit.«
»Ich geh sie suchen, Großmutter.«
»Hannah, Liebes«, fuhr Avigail fort, »Wie kannst du nur …«
»Caleb!
Caleb, verdammt nochmal, wo steckst du?«
Erschrocken drehten sich die beiden Frauen in die Richtung um, aus der der wütende Ruf gekommen war.
»Halla,
was ist denn in meinen Mann gefahren?«, wunderte sich Hannah.
Elias stürmte herein, gefolgt von David dem Schreiber.
»Wo steckt Caleb? Wo ist dieser Schuft?«
Avigail legte ihre Stickarbeit beiseite. »Mein Sohn, rufe die Götter an. Du siehst aus, als hätte dich etwas zu Tode erschreckt. Warum willst du Caleb sprechen, und warum nennst du ihn einen Schuft?«
»Ich komme gerade aus dem Gewölbe. Es ist unfassbar! Die Kostbarkeiten unserer Familie sind weg! Alle! Und außer mir kannte nur Caleb das Versteck.«
Hannah und Leah sprangen auf.
»Sprich ein Gebet, mein Sohn. Du meinst doch nicht im Ernst …«, fing Avigail an. »Dein Schwiegersohn würde nie und nimmer wagen, uns zu bestehlen!« Aber noch während sie dies sagte, überkam sie ein so unangenehmes Gefühl, dass sie eilends das Sonnenzimmer verließ. Verwundert schauten die anderen ihr nach, und kurz darauf vernahmen sie einen Aufschrei.
»Mutter! Was ist denn?«
Mit allen Anzeichen des Entsetzens tauchte Avigail wieder auf. »Bete für uns, Elias! Meine goldenen und silbernen Ringe! Mein gesamter Schmuck ist verschwunden.«
»Großmutter!« Esther kam zurück. »Tamar ist nirgends zu finden. Ihre Kleider sind nicht mehr da. Auch ihre Schuhe und ihre Kämme sind weg. Ihr Zimmer ist völlig
leer
!«
»Wo Tamar ist, ist mir egal!«, brüllte Elias. »Ich will wissen, wo Caleb ist!«
Leah fasste sich ein Herz. Ruhig und bedacht sagte sie: »Er wird ebenfalls fort sein, Vater.«
»Was?! Was sagst du da?«
»Ich habe sie gestern … miteinander im Bett überrascht«, sagte Leah.
Elias schwankte und wurde gerade noch rechtzeitig von David aufgefangen. Er half seinem Herrn auf einen Stuhl.
»Die Ringe hat mir dein Vater geschenkt«, sagte Avigail gepresst und verschränkte die Hände so fest ineinander, dass die Knöchel weiß wurden. Sie zitterte. »Asherah! Dagon! Baal! Helft uns! Mein Sohn, deine Tochter und Leahs Ehemann …« Ihre Stimme stockte. »Sie haben uns bestohlen und sind geflohen.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Gnädige Asherah, womit haben wir das verdient!«
»David«, sagte Elias grimmig, »ich muss sofort mehrere Briefe diktieren. Auch meine Mutter wird einen schreiben lassen.«
»Ich?«, fragte Avigail.
»Du wirst deine Cousine in Damaska informieren, dass sie uns einen Dieb und Ehebrecher geschickt hat und dass ich eine Entschädigung fordere! Seine Familie soll mir meinen Verlust in Geld ersetzen. Sie soll herkommen und sich in aller Form bei uns entschuldigen! Sobald dieser Vorfall bekannt wird – und das wird er, schon weil man unseren Bediensteten nicht den Mund zunähen kann –, werden wir zum Gespött von ganz Ugarit. Und am höhnischsten wird Jotham lachen!«
Eine Woche verging. Längst waren die Briefe unterwegs, sowohl an die Freunde, die Elias treu geblieben waren, als auch an die Wechselstube, an Geldverleiher und Gläubiger, vor allem aber auch an die Cousine in Damaska, die Avigail mit Vorwürfen überschüttet und von der sie einen finanziellen Ausgleich gefordert hatte.
David hingegen hatte sich auf eine Wanderung begeben. Während er über den Schotterpfad stapfte, überlegte er, ob das ehebrecherische Paar wohl den Weg zurück in Calebs Heimat angetreten hatte und von seiner Familie aufgenommen
Weitere Kostenlose Bücher