Im Auge des Feuers
wollen und war noch nicht bereit, endgültig aufzugeben. »Jens, meinen Sie, dass Sie sich jetzt, nach dem Ausflug in die Vergangenheit, deutlicher an das erinnern können, was 1969 geschehen ist?«
Zuerst schien es, als sei Jens eingeschlafen. Aber dann wandte er Eira plötzlich den Kopf zu. Diesmal waren beide Augen normal geöffnet. »Ja, wissen Sie, genau so … war es. Ich hab es vor mir gesehen … Als ich diese Stimme hörte … hab ich begriffen …« Die Augen fielen wieder zu. »Ich hab endlich begriffen … was damalsgesagt worden ist. Frank ist … auf den Scheiterhaufen gelockt worden … weil er … dort stand und … hineingesehen hat …«
»Nun ist es genug.«
Eira wurde höflich, aber bestimmt zur Tür geleitet.
Die Ärztin kam ihm mit gerunzelter Stirn entgegen. »Es geht jeden Tag aufwärts, aber Jens Eide ist schrecklich schnell erschöpft. Ich hoffe, Sie werden ihn erst dann eingehend vernehmen, wenn er sich erholt hat. Es sei denn, es wäre absolut notwendig.«
Es war schon lange absolut notwendig.
Eira ging durch die Schwingtüren hinaus und ahnte zum ersten Mal, dass sich bald einige Puzzleteile zusammenfügen würden. Jens’ Gedächtnis war jahrzehntelang vom Alkohol vernebelt gewesen. Der Sturz ins Wasser hatte ihn nun gewissermaßen wachgerüttelt. Eira musste Jens nur noch etwas geschickter auf die Sprünge helfen.
»Frank ist auf den Scheiterhaufen geführt worden, weil er dort stand …«, hatte Jens gesagt. Vielleicht wollte er damit sagen, dass sein Bruder in den Augen mancher Leute etwas zu früh zu seiner Schlafstätte zurückgekehrt war. Frank war möglicherweise Zeuge von ungeheuerlichen Vorgängen geworden.
Eira holte sein Handy heraus und beorderte einen Polizisten als Wache vor Jens’ Zimmer.
»Wir kommen der Sache näher«, murmelte er halblaut und steckte das Handy in die Tasche.
Kapitel 63
Eine zarte Schneedecke verwischte Details und Konturen, soweit das Auge reichte. Das Licht der Sterne spiegelte sich in den Schneekristallen.
Niillas hatte heute Bandprobe, also war es egal, ob Eira kochen würde oder nicht. Und doch – der Magen knurrte. Eira hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen. Es fröstelte ihn. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Klumpen Ton. Eira hatte in der Nacht nur drei Stunden geschlafen. Der Körper versuchte mit aller Kraft, gegen einen Virusinfekt anzukämpfen. Wenn er jetzt eine Erkältung bekäme, wäre sie sicherlich psychisch bedingt. Nun kam es vor allem darauf an, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. »Ablenkung« war das Zauberwort.
Am Morgen war er auf die Waage gestiegen und hatte festgestellt, dass er vier Kilo abgenommen hatte. Das war genug. Hunger zehrte nicht nur am Bauchspeck, er ruinierte auch die Konzentration. Schlachter Myland hatte seinen Laden direkt neben Eiras Haus. Auf dem Heimweg hielt Eira dort an und kaufte grobe Lammwürste mit einer Menge Kräuter. Im Keller lagerten noch Mandelkartoffeln. Einen großen Klecks Sauerrahm obendrauf, das sollte das Gleichgewicht endlich wiederherstellen.
Er bemerkte sie erst, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Sie stand versteckt unter dem Windfang, außerdem war sie in Schwarz gekleidet und hob sich kaum von der abendlichen Dunkelheit ab.
»Hallo.« Sie trat ins Licht.
»Niillas probt heute mit seiner Band.« Das musste sie, verdammt noch mal, wissen. Die Bandprobe fand immer am gleichen Wochentag statt.
»Ich dachte, ich könnte hier auf ihn warten. Die Musik, die sie spielen, ist nicht ganz mein Stil.«
Ausnahmsweise hatte Victoria mal recht. Auch Eiras Ansicht nach war die Musik, die Niillas mit seiner Band machte, bloß ein Versuch, aufgestaute Aggressionen loszuwerden. »Victoria, ganz egal, was sie spielen – sie sind bestimmt erst in ein paar Stunden fertig.«
»Ich hab sonst nichts zu tun.« Sie klang verhalten. Er erinnerte sich an ihre letzte Begegnung, bei der sie sich ganz anders gebärdet hatte. Eira beschloss, den Vorfall nicht zu erwähnen. Vielleicht musste man ihn einfach als jugendlichen Fehltritt auf sich beruhen lassen. Und außerdem wollte Eira später sowieso noch mal ins Büro. Das machte er immer, wenn Niillas probte. Es war der einzige Tag in der Woche, an dem er mit gutem Gewissen bis in die Nacht hinein arbeiten konnte.
»Hast du schon gegessen?«
»Nein.« Sie lachte etwas beschämt. »Im Grunde bin ich fast am Verhungern.«
Eira stürzte sich in die Vorbereitungen zum Abendessen. Heute ließ sich die Mahlzeit schnell und unkompliziert
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