Im Auge des Feuers
Schwanz zu treten. Nur in der Küche und beim Fernseher funktionierten die Lampen, das wusste er.
Aber er kam nicht so weit.
Plötzlich lag eine Hand auf seinem Arm. Jens drehte sich wie elektrisiert um.
»Hallo, Jens. Alles klar bei dir?«
Das Blut stockte ihm in den Adern. Undeutlich nahm er eine Silhouette wahr. Jetzt, da er nicht mehr trank, waren seine Nerven wohl etwas überreizt.
Aber nein, er hatte sich nicht getäuscht. Die Stimme war hier. Und er würde sie unter Tausenden wiedererkennen.
Er starrte auf die fremde Hand.
»Ich habe gehört, sie haben dich aus dem Krankenhaus entlassen?« Die Hand blieb weiterhin auf seinem Arm liegen und griff etwas fester zu.
»Richtig.« In der Hoffnung, dass es jetzt vielleicht doch funktionieren würde, tastete Jens nach dem Lichtschalter. Vergebens.Seine Hand war kraftlos und schwer, sein Körper kalt und steif, so als werde er wieder vom Eiswasser in die Tiefe gezogen.
»Ich habe für dich eingekauft. Brot und etwas Aufschnitt. Dazu noch Milch. Ich habe gehört, dass du nicht mehr trinkst.« Höhnisches Lachen. »Steh hier nicht so faul herum. Du kannst mir helfen, die Sachen reinzubringen.«
Kapitel 70
Es war später Nachmittag und Eira genehmigte sich ein Stündchen Pause.
In den Straßen hingen die Abgase wie dicker, wollener Eisnebel. Jens war noch immer unauffindbar. Eira hatte einige Obdachlose befragt, in der Hoffnung, dass jemand Jens gesehen hätte.
Ausgerechnet der Schweigsamste von ihnen konnte Eira ein kleines Stück weiterhelfen. Jens hatte diesem Mann ein paar Stunden zuvor Zigaretten und etwas Geld geschenkt. Außerdem hatte Jens offenbar kurz erwähnt, dass er seit neuestem eine Unterkunft hätte. Aber der Mann hatte nicht aus Jens herausbringen können, wo sich die Wohnung befand.
»Da hat er verdammtes Glück gehabt. Unsereins würde sich ja auch mal ein festes Dach über dem Kopf wünschen«, hatte der Obdachlose vor sich hin gebrummt. Dann hatte er Eira das aufgedunsene Gesicht zugewandt. »Wissen Sie, er war so anders als sonst. Ich glaube wirklich, dass Jens trocken ist. Vielleicht haben sie ihn obendrein noch bekehrt. Er ist ja sowieso den ganzen Herbst zu seiner heißgeliebten Stadtmission gerannt …«
Der Weg zu Eiras Haustür war nicht mehr zu erkennen. Innerhalb kürzester Zeit waren zwanzig Zentimeter Neuschnee gefallen. Es wäre Niillas’ Aufgabe gewesen, den Weg freizuräumen. Das hatte der Junge früher sogar gerne getan.
Mürrisch griff Eira zur Schneeschaufel. Die Situation ging ihm allmählich auf die Nerven. Von Niillas war weit und breit nichts zu sehen. Wie konnte er den Jungen bloß zur Vernunft bringen? Aber stop – war das nicht schon wieder der falsche Ansatzpunkt? Wann würde er endlich einsehen, dass Niillas bald erwachsen warund eben so manches tat, was dem Vater vielleicht nicht unbedingt gefiel? Am meisten ärgerte Eira sich wohl über sich selbst. Laut schnaufend machte er sich ans Schneeschippen.
Von Victoria hatte Eira nichts mehr gehört. Sein Messer war und blieb verschwunden. Als er sich bei Niillas erkundigt hatte, ob einer seiner Bekannten es genommen haben könnte, hatte sein Sohn ziemlich schroff geantwortet: »Papa, du bist ja so was von daneben.«
Eira ließ seine Schuhe mitten in der Diele stehen und warf seine Jacke achtlos auf einen Küchenstuhl. Wenn niemand außer ihm da war, wirkte das Haus unbewohnt, still und verlassen.
Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen. Sie schlossen sie eigentlich immer, wenn sie fortgingen. Das war jeden Winter ein Ritual, um wenigstens etwas Restwärme im Raum zu halten.
Eira schob die Tür ganz auf. Die Lampen im Wohnzimmer waren ausgeschaltet, dennoch sah er ihre Umrisse auf dem Sofa.
»Endlich.« Sie stand auf und kam auf ihn zu.
»Mein Gott«, murmelte er und wich einige Schritte zurück. »Was fällt dir ein? Begreifst du denn gar nichts?«
»Doch, allerdings.«
Sie war minimal bekleidet. Der dünne Pulli reichte nur knapp über den Po, und untenrum hatte sie lediglich eine Seidenstrumpfhose an.
Victoria presste sich an Eira und stieß die Tür hinter ihm zu. »Selbst solche Typen wie du geben irgendwann nach.«
Er packte sie so energisch an den Armen, dass sie aufjaulte. »Was fällt dir ein, hab ich gefragt! Niillas kann jeden Moment zur Tür reinkommen.«
Sie lächelte. »Niillas?« Jetzt wand sie ihre Arme aus seinem Griff. »Der ist weit weg. Wir haben die Schlüssel getauscht. Er denkt, ich bin auf dem Weg zu mir nach Hause, sitzt in
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