Im Auge des Feuers
genialer Mordgehilfe, die Flammen haben alle möglichen Spuren und individuellen Merkmale des Opfers verschlungen.« Ihm wurde langsam klar, dass sie vor einer beinahe unlösbaren Aufgabe standen. Das allzu spärliche Beweismaterial war uralt. Sie würden das Ganze in langwierigen und mühsamen Ermittlungsarbeiten aufdröseln müssen.Eira lehnte an der Wand, als Vennestad schließlich aus dem Obduktionssaal kam und sich auf den Weg machte.
»Worum geht’s, Eira?« Vennestad sah nicht so aus, als lege er Wert auf Eiras Besuch.
»Um den Bericht des gerichtsmedizinischen Instituts in Oslo von 1969.« Er hielt Vennestad eine Mappe mit ihm teilweise unverständlichem Inhalt hin. »Man findet also zwei Leichen. Die eine wird schnell als Oscar Wikan identifiziert. Ich habe nun ein paar Fragen.« Eira legte einen Notizblock auf seine Knie. »Erstens: Warum war Wikan zu diesem Zeitpunkt überhaupt in dem Gebäude? Zweitens: Warum ist er nicht rechtzeitig herausgekommen? Das Feuer ist an einer völlig anderen Stelle ausgebrochen und er muss sich darüber im Klaren gewesen sein, dass es sich auf ihn zubewegte. Er hätte alle Zeit der Welt gehabt herauszugelangen, wenn er nur gewollt oder gekonnt hätte.«
Vennestad strich sich über die Augen. »Irrationales Verhalten, Eira. Der penetrante Rauch könnte schuld daran gewesen sein. Das Haus füllt sich langsam, aber sicher mit Qualm. Wikan atmet zu viel davon ein; die Kohlenmonoxidkonzentration im Blut wird zu hoch, er ist benebelt und macht Fehler. Unvernünftige Dinge, wie zum Beispiel sich aufs Sofa zu legen. Oder in den Keller statt raus aus dem Haus zu gehen.«
Eira war alles andere als zufrieden mit dieser Erklärung. »Wikan gehörte rein gar nichts in dieser Firma und er hatte keinen Grund, sich dort aufzuhalten. Warum geht er nicht raus ? Lange bevor ihn irgendetwas benebelt?«
»Tatsache ist, dass die Pathologen nachher nur noch Wikans Skelett untersuchen konnten. Falls er andere Verletzungen hatte, wurden diese nicht mehr erkannt. Auch wenn er erwürgt, erstochen oder vergiftet worden sein sollte – nach so einem Brand lässt sich vieles nicht mehr nachweisen«, sagte Vennestad und zuckte mit den Achseln.
»Rosige Aussichten für unsere aktuellen Ermittlungen.« Eira verfiel in stilles Grübeln, bis ihn Vennestads leicht dozierende, monotone Stimme zurückholte.
»Etwas mehr zu finden war dagegen bei dem anderen, den man bis jetzt für Karl Fjeld hielt«, bemerkte er aufmunternd. »Der Mann hatte einen Schädelbruch, wie die Gerichtsanthropologin eben gesagt hat. Damals hat man dies einfach hingenommen. Man dachte wohl, der Mann sei bei seiner Flucht vor dem Feuer gestürzt oder von einem Balken getroffen worden.« Vennestad räusperte sich und fuhr fort. »Die Röntgenaufnahmen, die wir heute gemacht haben, bestätigen durchaus die Ergebnisse von 1969. Die Kopfverletzung war ganz frisch. Hätte der Mann einen alten Bruch gehabt, wäre eine Neubildung von Knochengewebe – callus – in der Bruchlinie zu sehen. Das ist hier nicht der Fall.«
»Wurde er bewusstlos geschlagen? Oder getötet? Das ist doch gerade das Problem, Vennestad. Wir müssen uns heute angesichts all der neuen Informationen fragen, ob der Mann vor dem Brand getötet wurde oder nur ohnmächtig war.«
Vennestads Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Ob er getötet wurde, können wir Gerichtsmediziner Ihnen nicht sagen, Eira. Aber in einer Sache kann ich Ihnen helfen. Er hatte Ruß in den Atemwegen und in der Lunge, also hatte er während des Brandes noch geatmet.«
Kapitel 31
24. Oktober 2007
Eira klingelte. Als sie die Tür öffnete, war Rita Fjelds Gesichtsausdruck bestenfalls lauwarm zu nennen. Auch die Lockenwickler konnten nicht zu einem gefälligeren Gesamteindruck beitragen. Ritas Stimme war dunkel und rau, und die vielen senkrechten Falten um die Lippen waren so eng zusammengezogen, dass Eira unmittelbar klar wurde, wie ungelegen sein Besuch kam.
»Also wirklich! Es wäre doch wahrhaftig möglich gewesen, vorher anzurufen und einen Termin zu vereinbaren, sodass man sich zumindest ein bisschen hätte zurechtmachen können.« Diesmal unternahm sie keinerlei Versuch, sich zu verstellen. Das war ihm im Grunde recht. Die Situation war nun ideal. Rita Fjeld hatte keine Zeit gehabt, sich mental vorzubereiten und alles auszusortieren, worüber sie nicht reden wollte. Eira würde von ihr verlangen, sich spontan an eine Episode zu erinnern, die sie sicher nach bestem Vermögen zu verdrängen
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