Im Auge des Feuers
um zehn vor acht herrschte plötzlich große Aufregung. »Der ärztliche Notdienst hat uns benachrichtigt. Sie sind gerufen worden, weil eine Frau angeblich ohnmächtig auf der Treppe vor ihrem Haus lag. Und zwar in der Elvegata, im Norden der Stadt.« Benjaminsen hatte die Nachricht entgegengenommen. »Sie war aber gar nicht ohnmächtig, sondern tot. Offenbar ist sie in Pantoffeln rausgegangen, ausgerutscht und mit dem Hinterkopf auf die Treppe geschlagen. Das muss wohl eine Steintreppe sein«, setzte er hinzu. »Wir müssen jetzt hin, weil sie die Tote sonst nicht abtransportieren können.«
»Auf einer Treppe ausgerutscht und dabei gleich umgekommen?« Eira runzelte die Stirn. »Dazu gehört schon einiges.«
»Es handelt sich um eine große, schwere Frau. Schon älter. Ich glaube, du kennst sie. Magni Andersen.«
»Wir sind nicht dazu gekommen, uns sonderlich gut kennenzulernen, aber gut genug, dass ich mir das sofort näher ansehen werde.« Eira griff nach seiner Jacke.
Vor dem Haus hatte sich eine ansehnliche Menge Schaulustiger versammelt. Krankenwagen und Polizeiauto waren am Straßenrand abgestellt worden und vor dem Eingang des Hauses warteten die Sanitäter.
»Haben Sie sie angefasst?«
»Ja, natürlich. Die Situation hier war uns nicht sofort klar.«
»Wie hat sie gelegen?«
»Ungefähr so wie jetzt.«
Eira zog die über sie gebreitete Decke beiseite. Sie lag auf demRücken, mit dem Kopf auf der mittleren Treppenstufe. Sie hatte keine Jacke an und nur Hausschuhe an den Füßen. Die eine Hand umklammerte zwei Schürzen und aus ihrem Hinterkopf war eine Menge Blut auf die Stufen geflossen.
»Ist jemand von Ihnen im Haus gewesen?« Alle schüttelten den Kopf. »Jemand ist in das Blut getreten, hier ganz am Rand. Bitte hinterlassen Sie alle Ihre Fußabdrücke bei den Kollegen von der Spurensicherung, zum Vergleich. Und halten Sie sich vor allem von der Treppe fern.«
Eira betrachtete lange die oberste Stufe. Ohne Zweifel war dort ein Abdruck. Im Dunkeln war wohl schwer zu sehen, wohin man die Füße setzte.
»Sie muss draußen gewesen sein, um Wäsche von der Leine zu holen. Schnee geschaufelt hat sie auch, besonders rund um die Wäschespinne. Und mit einem Besen gefegt.« Benjaminsen zeigte auf den Pfad, der von der Treppe zur Wäschespinne freigeräumt war. »Das hat sie sicherlich gemacht, um etwas Bewegung zu bekommen. Denn eigentlich ist es ja nicht nötig zu räumen, wenn nur fünfzehn bis zwanzig Zentimeter Schnee liegen. Vielleicht ist ihr schlecht geworden, sodass sie auf der Treppe umkippte.«
Benjaminsen neigte dazu, laut zu denken. Die meisten seiner Gedanken waren konstruktiv, aber häufig störte er den Denkprozess anderer. »Benjaminsen, hol doch jetzt einfach die Leute von der Spurensicherung und schaff einen Gerichtsmediziner her. Sofort.« Eira gab ihm einen freundlichen, aber bestimmten Knuff in den Rücken.
Alles, was Benjaminsen gesagt hatte, war an und für sich vernünftig. Jedoch hatte Eira einen Einwand: Magni Andersens Haltung passte nicht zu Benjaminsens Theorie. Da sie die Schürzen in der Hand hielt, musste sie auf dem Weg ins Haus gewesen sein. Sie lag aber falsch herum. Es sei denn, sie hätte etwas vergessen und wäre wieder auf dem Weg nach draußen gewesen.
Eira sah lange zu den Schneehaufen hinüber. Um die Wäschespinne herum war so gründlich geräumt worden, dass man auf dem Rasen hätte Golf spielen können. Es juckte ihn in den Fingern, in den Schneehaufen zu wühlen, die weißen Massen gründlich zu durchforsten. Magni Andersens Garten war derart verwildert, dass man sich beispielsweise einen Weg durch meterhohes Unkraut bahnen musste, um zu ihrer Mülltonne zu gelangen. Sie war nicht der Typ, der nur wegen der Optik ein paar lumpige Zentimeter Schnee weggekratzt hätte – noch dazu in Hausschuhen und ohne Jacke.
Zwei Stunden später war fast der ganze Schnee in Magni Andersens Garten durchgesiebt worden, und Eiras Vermutungen hatten sich tatsächlich bestätigt: Man hatte Blutspuren entdeckt.
»Die Verletzungen passen nicht zu einem Sturz. Sie sprechen eher für einen Schlag auf den Kopf«, murmelte der Arzt. Eira hatte seinen Namen nicht verstanden. Der Mediziner sprach ein gebrochenes Norwegisch, außerdem sah er aus, als fröre er. »Mit einem stumpfen Gegenstand, einem Knüppel zum Beispiel.« Er musste nach einem passenden Wort suchen, aber Eira interessierte momentan gar nicht, ob es sich um einen Knüppel oder ein Brett gehandelt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher