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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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Dessert?«
    »Nein«, sagte Anna.
    »Ja«, sagte Tom.
    Die beiden Frauen lachten.
    »Wie wär’s, wenn ich Ihnen nochmal die Karte bringe?«, fragte die Kellnerin.
    »Ja, bitte«, antwortete Tom. Er nahm seine Stäbchen in die Hand und pickte an den einzelnen Reiskörnern auf der Servierplatte herum.
    Anna blickte ihn an und legte den Kopf schief. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du wirklich noch Hunger hast.«
    »Ich dachte, du willst vielleicht noch was.«
    »Bloß nicht! Ich bring keinen Bissen mehr herunter. Du wirst mich nach Hause rollen müssen.« Sie drehte sich zur Seite und plusterte den Bauch auf. »Siehst du? Ich seh aus wie vier Monate schwanger.«
    Toms Augen huschten von Annas Bauch zu ihrem Gesicht, darauf gefasst, dass ihr Lächeln jeden Moment in sich zusammenfiel. So was passierte andauernd: Die Leute rissen harmlose Witze, die erst auf den zweiten Blick wehtaten. Und manchmal, wie jetzt, unterlief ihnen dieser Fehler sogar selbst. Aber das Lächeln auf Annas Lippen verschwand nicht. »Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte.
    »Ich …« Er breitete die Arme aus, ließ sie fallen.
    Anna zuckte die Schultern, aber ihre Augen leuchteten noch immer. »Ich hab keine Lust mehr, so zu tun, als wäre alles ein einziges Minenfeld.« Sie hob ihre Saketasse. »Auf uns.«
    Tom nahm seine Tasse in die Hand, wollte schon anstoßen  – und hielt inne. »Anna …«
    »Warte.« Sie beugte sich vor, stieß ihre Tasse gegen seine und leerte sie in einem Zug. Dann strich sie mit den Fingerspitzen über den Rand der Tasse, zögerte. »Ich muss dir was sagen.«
    Sie ist schwanger! , war das Erste, was er dachte. So oft hatte er sich vorgestellt, wie sie plötzlich damit herausplatzte, wie sie ihn zuerst zappeln ließ, um ihn dann zu überraschen. Aber bei der Menge an Alkohol, die sie getrunken hatte, konnte es das nicht sein. Tom nahm einen kleinen Schluck Sake und wartete.
    »Lass mich ausreden, okay?«
    Das war eigentlich sein Text. »Klingt nach was Ernstem«, erwiderte Tom.
    »Ist es auch. Und auch wieder nicht. Wahrscheinlich habe ich deswegen den ganzen Abend so idiotisch geplappert. Ich hatte einfach Angst davor, es dir zu sagen. Ich dachte, bestimmt klingt es ganz schlimm. Aber es ist nicht schlimm.«
    Langsam wurde Tom nervös. »Sag schon.«
    Anna atmete tief ein und sah ihm in die Augen. »Ich hab meinen Job verloren.«
    »Wie bitte?«
    Sie hob einen Zeigefinger. »Lass mich bitte ausreden.« Erst als er genickt hatte, sprach sie weiter. »Du weißt ja, dass ich in der letzten Zeit öfter in der Arbeit gefehlt habe, wegen der vielen Termine und so. Na ja, und heute hab ich wohl das Fass zum Überlaufen gebracht. Am Nachmittag hat Lauren angerufen. Sie meinte, dass es ihr leidtut, aber der Kunde hätte sich eben beschwert. Die Agentur hat zugesichert, dass wir noch dieses Quartal liefern, stattdessen hinken wir dem Zeitplan meilenweit hinterher. Eigentlich liegt das vor allem am Kunden selbst, aber das kann man dem natürlich nicht erzählen. Lauren brauchte also einen Sündenbock, und weil ich so oft gefehlt hatte…« Anna zuckte mit den Achseln. »Da hat sie eben mich ausgesucht.«
    »Moment mal. Die können dich nicht einfach so rausschmeißen. Nicht ohne Vorwarnung.«
    »Sie hat mich ja gewarnt. Vor einem Monat.«
    »Das hast du mir nicht erzählt.«
    »Ja, ich weiß. Und es tut mir leid. Wir waren gerade mitten in der Behandlung, da wollte ich einfach nicht davon anfangen.«
    Er mochte es nicht, wenn sie Geheimnisse vor ihm hatte, aber Tom ließ es auf sich beruhen. »Trotzdem, du könntest immer noch zur Personalabteilung gehen und –«
    »Lass mich ausreden.« Anna zerknüllte ihre Serviette auf dem Schoß, blickte darauf hinab, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf den Tisch. »Ich hab mich dort sowieso nicht mehr wohlgefühlt. Schon lang nicht mehr. Weißt du, ich habe genug von der Werbung. Ständig arbeite ich bis spätabends, und wozu? Um danach von Excel-Tabellen zu träumen? Um die Leute in Wichita zu überreden, Billig-Jeans zu kaufen, die sie nicht brauchen?« Anna schüttelte den Kopf. »Du hast mir das neulich klargemacht.«
    »Ich?«
    »Als du meintest, dass dir was gefehlt hat. Wir zwei, wie es früher mal war.« Sie sah ihn an. Ihre Augen luden ihn ein, ihr zuzustimmen. »Du hattest Recht. Ich hab einfach zu viel gearbeitet, wir haben beide zu viel gearbeitet. Aber früher ging es eben nicht anders. Das Haus, die Klinikrechnungen, die

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