Im Bann der Drudel (Auf der Suche nach dem magischen Buch) (German Edition)
verlegen mit den kleinen Glunzäuglein.
Loo schnappte nach Luft.
»Timothy sollte sowieso etwas weniger Traditionelles tragen«, sagte Avy, bevor Loo zu Wort kam. »Ich muss immer an das Vereinigungskleid meiner Cousine denken, wenn ich ihn sehe. Ich schaue mal, was ich für dich tun kann, Dibs.«
Dibs brachte mit tränenerstickter Stimme ein »Danke« heraus, was ihn ein liebevolles Kopftätscheln von Avy und sechs böse Blicke von Loo und den Grünglunzen einbrachte.
»Los, Jungs – Worauf wartet ihr noch? Wir sehen uns in einer Hora vor der Bibliothek!«
Timothy sprang voller Tatendrang auf, und als die Kellnerin das Honigwasser brachte, war er mit Dibs an der Hand schon mitten auf der immer leerer werdenden Plaza.
Einige Gaukler schwankten lallend an ihnen vorbei, ein Panonussverkäufer schloss scheppernd seinen Stand, und die wenigen verbliebenen Schaulustigen hatten sich um einen greisen Mann versammelt, der auf dem Boden sitzend Geschichten erzählte. Neben dem Alten flackerten zwei Kerzenstümpfe, deren Licht sein zerfurchtes Gesicht wie eine Kraterlandschaft erscheinen ließ.
»… weiß aus sicheren Quellen, dass die Drudel weder ein Dan noch ein Pacifer geschrieben hat …«, hörte Timothy ihn im verschwörerischen Ton sagen. Abrupt blieb er stehen.
Dibs zog ungeduldig an seiner Hand. »Wir müssen weiter«, drängte er. »Wir wollen nicht, dass die Niptradin böse auf uns ist.«
Timothy war die Bibliothek plötzlich herzlich egal. Hier mitten auf der Plaza saß ein Mann, der vielleicht die Antworten auf seine Fragen kannte. Irgendwie kam ihm dieser Zufall komisch vor. Trotzdem klopfte sein Herz wild vor lauter Aufregung. Er wollte kein Wort verpassen und als zwei Bellaren spöttisch lachend abzogen, schlüpfte er in die vorderste Reihe. Dibs folgte ihm mit hängenden Ohren.
»Es waren unruhige Zeiten, damals«, meinte der Alte gerade, als Timothy sich auf der Erde niederließ. Er machte es sich so bequem wie möglich, die Arme fest um seine Knie geschlungen und aufmerksam lauschte.
»Einige unserer Vorfahren hatten die Hosen gewaltig voll und waren in Höhlen oder Katakomben geflüchtet …«
»Wahrscheinlich die Coloren!«, rief ein junger Valide dazwischen und erntete von seinen umstehenden Freunden Gelächter.
»Ja, und das mit Recht!«, blaffte der Greis zurück, dessen blasslilafarbenes Hemd lose um seinen hageren Körper schlotterte.
Timothy vermutete, dass auch er zu den Coloren gehörte. Sicher war er aber nicht. Im Alter sahen sich alle Lemuren recht ähnlich, auch wenn dieser kaum noch Barthaare vorweisen konnte, was seinem Zorn jedoch keinen Abbruch tat.
»Während ihr Validen euch noch um euren Verstand geprügelt habt«, rief er mit erhobenem Zeigefinger, »hatten die Coloren ihre Haut schon in Sicherheit gebracht. Merk dir, Jungchen: Wenn ein Color das Weite sucht, solltest du ihm hinterherlaufen!« Kichernd setzte er hinzu: »Wenn du kannst …«
»Was war denn jetzt mit der Drudel?«, gab der Valide ungeduldig zurück.
Ohne dem Halbstarken zu antworten, fischte der Alte einen Haufen Zuckerstücke aus einer verbeulten Dose und rührte sie in eine Teetasse. Genüsslich schlürfend sah er den Validen an.
»Ein neues, düsteres Zeitalter hatte begonnen«, sagte er schließlich. »Wo man auch hinsah, überall wurden Lemuren verfolgt und getötet. Der Mensch ist ein barbarisches Wesen«, bemerkte er traurig. »Sogar die Hexen bekamen es mit der Angst zu tun. Sie flüchteten tief in die Wälder und hielten Rat darüber, wie sie der Grausamkeit der Menschen begegnen konnten.«
Timothy sah zu Dibs hinunter, der sich fest an seinen Arm geklammert hatte und an den Lippen des Geschichtenerzählers hing.
»Hexen sind böse!«, kiekste er.
»Ja, und Gnade übten sie keine!«, sagte der Alte, als hätte er Dibs gehört. »Sie haben ihre Sache richtig gut gemacht, das muss man ihnen lassen. Sie belegten den Menschen mit Flüchen, die ihr eurem ärgsten Feind nicht wünscht, sie streuten todbringende Seuchen und obwohl es ihnen gelang, mit der Pestelencia fast ein Viertel der Menschheit zu vernichten, reichte es doch nicht für einen Sieg!«
»Die Pest …«, erahnte Timothy. Das sollten Hexen gewesen sein? Er sah vor seinem geistigen Auge hakennasige Frauen mit spitzen Hüten auf Besen reiten, die wilde Flüche über harmlose Pilger ausstießen. Timothy fragte sich plötzlich, ob er nicht doch seine Zeit verschwendete.
Der Greis machte eine kunstvolle Pause und lächelte, als er
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