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Im Bann der Dunkelheit

Im Bann der Dunkelheit

Titel: Im Bann der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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zurückgekommen waren.
    Orson. Jimmy. Aaron. Anson. Wie die scharfen Spitzen eines Stacheldrahtzauns wirbelten ihre Namen durch meinen Geist. Die verlorenen Jungen.
    Ich fühlte eine Verpflichtung gegenüber ihnen allen, ein grimmiges Pflichtgefühl, das nicht völlig erklärbar war. Ich hatte zwar großes Glück mit meinen Eltern und den Freundschaften gehabt, die mir zuteil wurden, aber letzten Endes war ich selbst der absolute verlorene Junge, und bis zu einem gewissen Ausmaß würde ich das auch bis zu dem Tag bleiben, an dem ich aus meiner Dunkelheit in dieser Welt in das Licht gleite, das jenseits davon wartet. Ungeduld zerrte an meinen Nerven. Bei konventionellen Suchaktionen nach vermißten Wanderern, kleinen Flugzeugen, die in Gebirgsregionen abgestürzt sind, und nach kleinen Schiffen auf See brechen die Suchtrupps in der Morgendämmerung auf und kehren in der Abenddämmerung zurück.
    Wir waren statt dessen auf die dunklen Stunden beschränkt, nicht nur wegen meines XP, sondern auch weil wir unsere Kräfte in äußerster Verstohlenheit zusammenziehen und genauso unauffällig handeln mußten. Ich fragte mich, ob auch die Angehörigen konventioneller Suchtrupps alle zwei Minuten auf die Uhr sahen, an ihren Lippen nagten und vor Frustration leicht verrückt wurden, während sie auf das erste Tageslicht warteten. Mein Uhrglas war von Augenspuren verätzt, von meinen Lippen hingen kleine, zottelige Fleischfetzen herab, und um Viertel vor eins war ich nicht nur ein kleines bißchen, sondern schon zur Hälfte verrückt.
    Als ich mich kurz vor eins eifrig der zweiten Hälfte meiner geistigen Gesundheit entledigte, klingelte es an der Haustür.
    Mit der Glock in der Hand ging ich runter. Durch eines der Buntglasfenster sah ich Bobby auf der Veranda stehen.
    Er wandte sich halb von der Tür ab und sah auf die Straße zurück, als hielte er nach einem Überwachungsteam der Polizei in einem geparkten Wagen Ausschau oder nach einer Schule Anchovis, die vorbeifuhr.
    »Tolles Hemd«, sagte ich, nachdem er hereingekommen war und ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
    Er trug eine rote und graue Strandszene mit einem Vulkan und blauen Farnen, die über einem langärmeligen schwarzen Pullover absolut cool aussah.
    »Ein Modell von Iolani«, sagte ich. »Knöpfe aus Kokosnußschale, 1955.«
    Er würdigte meine Gelehrsamkeit nicht einmal, indem er die Augen verdrehte, sondern ging an mir vorbei zur Küche.
    »Ich hab noch mal mit Charlie Dai gesprochen«, sagte er.
    Die Küche wurde lediglich von dem aschenen Antlitz des Tages erhellt, das sich gegen die Jalousien drückte, von der Digitalanzeige des Herdes und zwei dicken Kerzen auf dem Tisch. »Noch ein Kind ist verschwunden«, sagte Bobby.
    Ich spürte, daß meine Hände wieder zu zittern begannen, und legte die Glock auf den Küchentisch. »Wer, wann?«
    Er holte sich ein Red Bull aus dem Kühlschrank, in dem die übliche Lampe durch eine rosa getönte mit geringerer Wattzahl ersetzt worden war. »Wendy Dulcinea.«
    »Oh«, sagte ich und wollte mehr sagen, konnte es aber nicht.
    Wendys Mutter, Mary, ist sechs Jahre älter als ich. Als ich dreizehn war, heuerten meine Eltern sie an, mir Klavierstunden zu geben, und ich war hoffnungslos in sie verschossen.
    Damals trieb mich die Illusion, ich würde eines Tages das Rock-.n.-Roll-Piano genauso gut spielen wie Jerry Lee Lewis und ein auf die Tasten hauender Verrückter sein, der das Klavier richtig zum Qualmen bringen konnte. Schließlich kamen meine Eltern und Mary zu dem Schluß - und überzeugten mich davon ., daß die Wahrscheinlichkeit, ich würde einmal ein fähiger Pianist sein, unermeßlich geringer war als die, einmal frei schweben und wie ein Vogel fliegen zu können.
    »Wendy ist sieben«, sagte Bobby. »Mary wollte sie zur Schule fahren. Setzt den Wagen aus der Einfahrt. Dann merkt sie, daß sie im Haus etwas vergessen hat, und geht rein, um es zu holen. Als sie zwei Minuten später zurückkommt, ist der Wagen verschwunden. Samt Wendy.«
    »Und niemand hat etwas gesehen?«
    Bobby ließ das Red Bull die Kehle runtergurgeln: genug Zucker, um ein Koma auszulösen, genug Koffein, um einen Sattelschlepper-Trucker über eine Strecke von tausend Kilometern wach zu halten. Er stärkte sich offenbar für die bevorstehende schwere Prüfung.
    »Niemand hat was gesehen oder gehört«, sagte er. »Das Viertel der Blinden und Tauben. Manchmal glaube ich, da draußen geht etwas vor, das viel ansteckender ist als der

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