Im Bann der Dunkelheit
Fußgelenke waren mit Draht umwickelt. Die Drähte waren verdammt eng zugezerrt worden, und ich zuckte beim Anblick der aufgeschürften Haut und des getrockneten Bluts richtig zusammen.
Dann sah ich nach Orson. Er atmete zwar, aber nur sehr flach. Seine Vorder- und Hinterpfoten waren ebenfalls mit Draht gefesselt. Ein provisorischer Drahtmaulkorb hielt seine Kiefer geschlossen, so daß er nicht mehr als ein leises Winseln von sich geben konnte.
»Alles in Ordnung, Bruder«, sagte ich mit zitternder Stimme und streichelte ihm übers Fell.
Doogie ging zum Schleusentor und rief Sasha und Roosevelt im Tunnel zu: »Wir haben sie. Alle am Leben!« Sie jubelten begeistert, aber Sasha drängte gleich darauf zur Eile.
»Wir haben nicht vor, uns hier auf die faule Haut zu legen«, sagte Doogie. »Haltet trotzdem weiterhin die Augen offen.«
Schließlich mochten in diesem Labyrinth noch schlimmere Dinge als Randolph und Conrad lauern.
Neben dem Spieltisch standen verschiedene Schultaschen und Rucksäcke und auch eine Styroporkühltasche. In der Annahme, daß die Rucksäcke dem Mörderteam gehörten, machte sich Doogie dort auf die Suche nach einer Zange oder einem anderen Werkzeug, mit dem wir die Kinder befreien konnten.
Die Drähte waren so penibel verdreht und verknotet worden, daß wir sie nicht ohne Probleme lösen konnten.
Ich zog Jimmy Wing vorsichtig den Klebestreifen vom Mund. Er sagte mir, daß er dringend Pipi machen müsse, worauf ich ihm erwiderte, daß ich es auch müsse, aber daß wir beide uns noch ein Weilchen zusammenreißen mußten. Das solle uns jedoch keine Schwierigkeiten bereiten, da wir schließlich beide tapfere Kerle seien, oder? Daraufhin nickte er mir mit ernster Miene zu. Die sechsjährigen Stuart-Zwillinge, Aaron und Anson, dankten mir höflich, nachdem ich sie von den Klebestreifen befreit hatte. Anson teilte mir mit, daß die beiden bewußtlosen Typen auf dem Boden böse Männer seien. Aaron war wesentlich offener als sein Bruder und nicht so sehr auf korrekte Ausdrucksweise bedacht und bezeichnete sie als .Scheißkerle., worauf Anson ihn warnte, daß er Ärger bekommen würde, sollte er dieses verbotene Wort jemals in Gegenwart ihrer Mutter benutzen.
Ich hatte Tränen in Strömen erwartet, aber diese Kurzen hatten bestimmt längst alle Tränen vergossen, die sie vergießen konnten, zumindest über diese schrecklichen Erlebnisse. Die meisten Kinder besitzen eine angeborene Härte, die wir nur selten wahrzunehmen bereit sind, weil wir die eigene Kindheit durch die rosa Brille der Nostalgie und Sentimentalität zu betrachten pflegen.
Wendy Dulcinea war mit ihren sieben Jahren ein strahlendes Ebenbild ihrer Mutter Mary, von der ich zwar nie Klavier spielen gelernt hatte, in die ich aber einst unsterblich verliebt gewesen war. Sie wollte mir unbedingt einen Kuß geben, den ich auch gern annahm, und sagte dann: »Das Hündchen hat großen Durst - du solltest ihm unbedingt was zu trinken geben. Wir haben zu trinken bekommen, aber dem Hündchen wollten sie nichts geben.«
Orsons Augenwinkel waren mit irgendeiner weißen Substanz verkrustet. Er wirkte kränklich und schwach, denn mit dem zwangsweise verschlossenen Maul hatte er nicht richtig transpirieren können. Hunde schwitzen nicht durch Hautporen, sondern größtenteils über die Zunge.
»Es wird alles wieder gut, Bruder«, sagte ich zu ihm. »Wir werden von hier verschwinden. Halt durch. Wir gehen nach Hause. Zurück nach Hause. Du und ich. Weg von hier.«
Doogie hatte die Durchsuchung der Sachen der Killer abgeschlossen und kam zu mir, um mit Hilfe einer Drahtzange mit scharfen Schneiden die Fesseln zwischen den Pfoten meines Bruders durchzuknipsen. Die Drähte rund um Orsons Schnauze zu zerschneiden erforderte etwas mehr Sorgfalt und Zeit, in der ich ihn pausenlos vollquatschte, daß alles gut, bestens, prima, top und hervorragend sein würde. In weniger als einer Minute war der unangenehme Maulkorb verschwunden.
Doogie ging zu den Kindern weiter. Orson machte keine Anstalten aufzustehen, aber er leckte mir die Hände. Seine Zunge war rauh und trocken.
Die hohlen Beteuerungen waren mir mühelos über die Lippen gekommen. Aber jetzt konnte ich nicht mehr sprechen, weil alles, was ich zu sagen hatte, so wichtig und tief empfunden war, daß es mich emotional zu Boden geworfen und zerstört hätte, wo doch einer erfolgreichen Flucht noch so viele Hindernisse im Wege standen. Ich konnte mir jetzt keine Tränen erlauben, vielleicht auch
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