Im Bann der Dunkelheit
mit entblößten Zähnen, wenn er das obere Ende der Leiter erreichte. Orson würde den Burschen nicht aus dem Fahrstuhlschacht steigen lassen.
Ich hob die Taschenlampe auf und eilte zur dritten Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen, und ich stieß sie ganz auf.
Von den drei Räumen, die ich bislang erkundet hatte, war dies der kleinste. Er war nicht einmal halb so groß wie die beiden anderen, so daß der Lichtstrahl problemlos von einer Wand zur anderen glitt. Jimmy war nicht hier.
Der einzige interessante Gegenstand war ein zusammengeknülltes Stück Stoff, das etwa drei Meter von der Schwelle entfernt lag. Versessen darauf, sofort hinter die nächste Tür zu gucken, hätte ich es beinahe gar nicht weiter beachtet, aber dann betrat ich den Raum doch noch und hob den Lappen mit der Hand, mit der ich auch die Pistole hielt, vom Boden auf.
Es war gar kein Lappen, sondern das weiche Oberteil eines Baumwollschlafanzugs. Mit engem, rundem Halsausschnitt.
Etwa von der Größe, wie ein Fünfjähriger sie benötigte. Auf der Brust standen in roten und schwarzen Buchstaben die Worte JEDI KNIGHT. Mich beschlich ein äußerst ungutes Gefühl, und ich bekam einen ganz trockenen Mund.
Schon während ich Orson von Lilly Wings Haus hierher gefolgt war, hatte sich mir bereits mehr oder weniger der Schluß aufgedrängt, daß es für Lillys kleinen Jungen keine Rettung mehr gab. Irgendwie hatte ich mich dann doch noch mal - gegen besseres Wissen - dazu verleiten lassen, Hoffnung aufzubringen. Auf der unsicheren Strecke zwischen Geburt und Tod brauchen wir Hoffnung in gleichem Maße, wie wir Nahrung und Wasser, Liebe und Freundschaft benötigen, und das gilt besonders hier am Ende der Welt in Moonlight Bay. Der Trick besteht jedoch darin, sich stets bewußt zu sein, daß Hoffnung eine sehr wacklige Angelegenheit ist und nicht etwa eine Brücke aus Stahl und Beton, die den Abgrund zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und einer vielversprechenderen Zukunft überspannt. Hoffnung ist nichts Robusteres als zitternde Tautropfen, die am Faden eines Spinnennetzes kleben. Sie allein kann die schreckliche Last eines gequälten Geistes und gepeinigten Herzens nicht lange tragen. Weil ich Lilly schon seit so vielen Jahren zugetan bin - inzwischen ist sie eine gute Freundin, aber es gab Zeiten, da habe ich sie mehr als meinen besten Freund geliebt ., hatte ich ihr den schlimmsten aller denkbaren Schicksalsschläge ersparen wollen: den Verlust eines Kindes. Ich hatte ihr verzweifelter helfen wollen, als mir klargeworden war, und dementsprechend war ich über eine Brücke der Hoffnung gelaufen, einen hochgespannten Bogen, der sich nun wie Spinnfäden auflöste und meine Aufmerksamkeit auf den Abgrund unter mir richtete.
Ich drückte das Schlafanzugoberteil fest an mich und kehrte in den Gang zurück.
»Jimmy.« Ich hörte den Namen des Jungen, noch bevor ich begriff, daß ich es war, der ihn leise ausgesprochen hatte.
Ich rief ihn noch einmal, diesmal aber nicht mit gedämpfter Stimme, sondern aus vollem Hals. Ich hätte genausogut murmeln können, denn auf meinen Schrei bekam ich genausowenig eine Antwort wie auf mein Murmeln. Das war keine Überraschung. Ich hatte auch nicht mit einer gerechnet.
Wütend knüllte ich das dünne Kleidungsstück zusammen und steckte es in eine meiner Jackentaschen.
Nachdem die Hoffnung sich als reine Illusion erwiesen hatte, konnte ich die Wahrheit nun deutlicher erkennen. Der Junge war nicht hier, in keinem der Räume, die in diesen Gang mündeten, und auch nicht auf der Etage über oder unter mir.
Natürlich hatte ich mich schon gefragt, wie der Kidnapper es wohl geschafft hatte, zusammen mit Jimmy die Notleiter hinabzuklettern. Jimmy war aber gar nicht bei ihm gewesen. Der gelbäugige Mistkerl hatte irgendwann gemerkt, daß er von jemandem verfolgt wurde, jemandem, der einen Hund bei sich hatte. Daraufhin hatte er Jimmy irgendwo versteckt und anschließend das Oberteil des Schlafanzugs - das den Geruch des Jungen trug - in die Rattenkatakomben unter dem Lagerhaus gebracht, um uns in die Irre zu führen.
Jetzt fiel mir auch wieder ein, wie unsicher Orson geworden war, nachdem er mich doch zunächst so zuversichtlich zum Eingang des Lagerhauses gebracht hatte. Er war in der Zufahrtsstraße nervös hin und her gelaufen und hatte überall auf eine Weise geschnüffelt, als hätten zwei gegensätzliche Fährten ihn verwirrt.
Nachdem ich das Lagerhaus betreten hatte, war Orson die ganze Zeit über,
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