Im Bann Der Herzen
männlicher Intellekt. Ein interessanter Kontrast zu ihrer Erscheinung, dachte er. Sie war zierlich und sanft gerundet, und ihm fiel ein, wie ihn die Rundung ihres Unterarms in dem herrlichen roten Kleid gestern beeindruckt hatte ... ihr Arm und die weiße Wölbung ihres Busens. Sehr weiblich. Er hatte die Sekunden ausgekostet, als er ihre Taille umfasst und sie in die Droschke gehoben hatte ... das Gefühl ihrer warmen Haut unter der dünnen Seide. Kein Korsett, fiel ihm ein. Das war es, was ihn so erstaunt hatte. Ihre Figur war höchst unmodisch, sozusagen naturbelassen. Mit sämtlichen wundervollen Kurven.
Als Arzt konnte er die Weigerung jeder Frau, ihren Leib mit Fischbein und Schnürbändern zu martern, nur gutheißen, doch folgten Frauen im Allgemeinen ärztlichem Rat sehr widerstrebend. Eitelkeit war eine harte Zuchtmeisterin, wie Marianne ihn gelehrt hatte. Sein Mund verzog sich bitter, wie üblich, wenn er an seine Ex-Verlobte dachte, selbst nach sieben Jahren noch. Die Aussicht, einen Armenarzt zu ehelichen, hatte für Mariannes Eitelkeit eine Beleidigung dargestellt. Der Zug um seinen Mund vertiefte sich, als er daran dachte, wie sie fast körperlich vor ihm zurückgeschreckt war, als er ihr anvertraut hatte, dass er eine Praxis in den Slums von Edinburgh zu eröffnen gedenke. Sie hatte reagiert, als hätte er in den Salon ihrer Mutter Typhus oder Flöhe eingeschleppt. Die Auflösung der Verlobung war so rasch und entschlossen erfolgt, dass ihm nichts übrig blieb, als sich damit abzufinden, dass das, was er für echte Zuneigung gehalten hatte, sich allein auf seine gesellschaftliche Eignung als Ehemann gründete. Verbitterung und Enttäuschung wurden zumindest von der Erkenntnis gemildert, dass er die Wahrheit noch rechtzeitig erkannt hatte.
Er hatte nicht die Absicht, sich dieser Gefühlsgefahr noch einmal auszusetzen. Er brauchte eine Frau und eine gute, für beide Partner passende Beziehung ohne Gefühlsaufwand. Chastity Duncan, die die Regeln der Eitelkeit verschmähte, war zwar anziehend, doch hatte sie etwas an sich, das ihn irritierte. Charakterlich war sie schlicht zu kompliziert und absolut nicht die Art Partnerin, die ihm vorschwebte.
Und wie stand es um den Vorschlag der Vermittlerin? Um Signorina della Luca? Sein professionelles Auge hatte in ihrer Haltung und ihren Bewegungen die Eingeengtheit eines fest korsettierten Körpers erkannt, obgleich sie so dünn war, dass sie dieser künstlichen Zügelung nicht bedurfte. Doch ihr prüder und spießiger Geschmack in puncto Kleidung deutete nicht auf Eitelkeit hin, zumindest nicht auf jene körperlicher Art. Sie war eigensinnig und wie viele eigensinnige Menschen nicht ganz korrekt in den Tatsachen und Ansichten, die sie lautstark von sich gab. Und herrschsüchtig war sie obendrein, das stand fest. Aber sie war reich, und ihre charakterlichen Mängel ließen sich in Vorteile verwandeln. Er hatte den Eindruck, dass sie, sobald sie sich in etwas verbissen hatte, jedes Ziel hingebungsvoll verfolgen würde. Ihrem Mann beim Aufbau einer erfolgreichen, vornehmen Praxis zu helfen, war ein Ziel, das sich für ihre Hartnäckigkeit geradezu anbot.
Chastity Duncan hingegen würde sich keinem wie immer gearteten Zügel fügen.
Er bog in die Harley Street ein und schritt auf das Haus zu, in dem sich seine neue Ordination befand. Es sah aus, als stünde sein Entschluss fest. Obwohl er die Ehrenwerte Miss Duncan als sehr anziehend empfand, war sie nicht die Frau, die er brauchte. Laura della Luca ... vielleicht ...
Außerdem hatte er nicht den Eindruck, dass die Dame abgeneigt war.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss der Außentür, nahm vom Dielentisch die wenigen Briefe, die abgegeben worden waren, und registrierte, dass die anderen Ärzte im Haus wahre Berge von Post erhalten hatten. Nun, er musste sich in Geduld fassen. Er schritt die mit Teppich belegten Stufen hinauf. Ein Hausbesorger fegte sie und kümmerte sich darum, dass das vergoldete Treppengeländer gewissenhaft blitzte. Auf dem ersten Absatz angelangt, öffnete sich eine Tür, und eine Frau in mittleren Jahren mit Lorgnon und strengem Haarknoten trat aus dem dahinter liegenden Büroraum.
»Guten Morgen«, sagte sie. »Dr. Farrell?«
»Ja.«
»Ich bin Dr. Talgarths Empfangsdame«, sagte sie, auf die Tür hinter sich deutend. »Er möchte wissen, ob Sie wohl auf einen Drink kommen würden, ehe Sie heute nach Hause gehen. So um fünf. Zum Einstand sozusagen.«
»Wie liebenswürdig.«
Weitere Kostenlose Bücher