Im Bann der Leidenschaften
Schloss.
Mein Vater nickt Jerôme anerkennend zu, als der sich den Frack glatt streicht, hinter das Steuer klemmt und losfährt. Erst jetzt bemerke ich, dass Dads Haare beinahe so dunkel sind wie die von Jerôme. Mein guter, alter Daddy hat sich die Haare gefärbt. Ich fass es nicht!
Verzweifelt versuche ich, mich aufzusetzen. Natürlich funktioniert auch das nicht. Wie gelähmt liege ich auf den unzähligen Tüllschichten meines Hochzeitskleides, das mörderische Mieder schnürt mir die Luft ab.
„Jerôme!“, brülle ich gepresst.
„Du kennst Monsieur Chabrol also doch.“ Misstrauisch wandert Dads Blick zwischen mir und Jerôme hin und her.
„Wir haben uns flüchtig auf einer Party kennen gelernt“, kommt Jerôme mir zu Hilfe. Zum ersten Mal höre ich ihn Englisch sprechen, doch sein Englisch klingt kein bisschen niedlich, so wie Philippes, sondern hart, obwohl er es anscheinend fließend spricht. „Ihre Tochter hatte nur Augen für meinen Freund Philippe. Wie das so ist, wenn man frisch verliebt ist. Sie hat mich gar nicht wahrgenommen. Aber so soll es sein.“
Dad nickt. Das leuchtet ihm ein, doch wirklich zufrieden ist er nicht. „So nervös wie heute habe ich Annie noch nie erlebt. Das macht bestimmt die Aufregung wegen der Hochzeit. Ich entschuldige mich für meine Tochter, Mister Chabrol.“
So wie mein Vater Jerômes Nachnamen ausspricht, klingt es wie Kabel. Aber besser, ich halte dazu meine Klappe.
„Kein Problem, Mister Salinger“, meint Jerôme großzügig. „Als meine große Schwester geheiratet hat, war es dasselbe. Mireille war tagelang nicht ansprechbar.“
„Und das am schönsten Tag des Lebens, wo die Braut doch eigentlich strahlen sollte. Frauen. “ Mein Vater schüttelt den Kopf. Für die Kapriolen der Frauen hat er kein Verständnis.
Mir dagegen fehlt jegliches Verständnis für das, was auf den vorderen Sitzen abgeht. Während ich, gefangen auf dem Rücksitz eines Luxuswagens, fast ersticke, unterhalten sich mein Vater und Jerôme in aller Seelenruhe über hysterische Bräute. Wobei dies noch das geringere Übel ist. Denn soeben wird mir bewusst, dass Philippe und Jerôme sich seit Jahrzehnten kennen. Das heißt aber auch: Wenn Philippe Jerôme heute Morgen gefragt hat, ob er Sebastian vertritt, dann war mein Liebhaber bereits zur Hochzeit eingeladen. Jetzt wird mir allerdings ganz anders. Warum erfahre ich auf diese Weise davon, dass Jerôme den richtigen Trauzeugen vertritt? Warum hat Philippe mir nie von Jerôme erzählt? Soll ich etwa mit Philippe und Jerôme erst vor den Standesbeamten und später vor den Pastor treten? Irgendwo zwischen meinem Magen und meiner Kehle spüre ich, wie sich der Milchkaffee, den ich bei Camille Beauté getrunken habe, seinen Weg nach oben bahnt. Nicht auch noch das! Ich schlucke hart und konzentriere mich auf meinen Pressatem.
„Das kannst du Philippe nicht antun!“, starte ich einen erneuten Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen. „Und halt an und hilf mir, das ich mich setzen kann, Jerôme. Ich ersticke.“
„Jetzt sprich endlich Englisch!“, mault mein Vater.
Ein schiefes Grinsen zieht sich über Jerômes Gesicht, als er, unbeeindruckt von Dads Beschwerde, auf Französisch antwortet. „Besser du erstickst, als dass du die Hochzeit platzen lässt! Das kannst du Philippe und den Verwandten, die von weit her angereist sind, nicht antun. So etwas gibt es nur in schlechten Filmen. Du musst da jetzt durch. Wir beide müssen da durch. Und dann sehen wir weiter.“
In schlechten Filmen? Und dann sehen wir weiter? Hah! Zusätzlich zum Atem bleibt mir nun auch noch die Spucke weg. Das einzige, was mich ein wenig beruhigt, ist Jerômes Eingeständnis, dass wir beide diese Peinlichkeit durchstehen müssen. Und dass er mir damit gewissermaßen eine Entscheidung abgenommen hat. Jerôme hat recht. Ich kann die Hochzeit nicht platzen lassen. Das hat Philippe nicht verdient. Allerdings hat er es ebenso wenig verdient, dass seine Braut ihn mit seinem alten Schulfreund betrügt.
Grundgütiger! Er hat eine bessere Frau verdient als mich!
Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Ich knie in einer total verdrehten Position auf dem Rücksitz eines cremeweißen Bentleys, den Hintern in der Luft und koche vor Wut über mich selbst. Warum nur habe ich mich auf die Affäre mit Jerôme eingelassen? Habe ich es so nötig? Was ist mit mir los? Meine Augen fangen an zu brennen. Jetzt bloß nicht heulen! Heulen bringt nichts, es ist eh schon alles
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