Im Bann der Leidenschaften
ich ihn darum so leichtfertig betrogen. Weil diese Beziehung für mich so irreal ist wie ein Märchen. Ja, das trifft es auf den Punkt. Ich fühle mich wie die Schauspielerin in einem Märchen. Ich spiele das Aschenputtel, das unter den neidischen Blicken der Stiefschwestern vom Prinzen umschwärmt wird.
Neben Philippe drückt die Fotografin pausenlos auf den Auslöser ihrer Kamera. Sie fotografiert ausnahmslos alles, was in diesem Raum vor sich geht. Meine älteste Freundin und Trauzeugin Jane wartet auf der linken Seite. Mary-Beth und Mel müssen irgendwo in der ersten Reihe sitzen. Ich kann sie nicht erkennen. Ich erkenne überhaupt niemanden, die ganze Zeit kreisen meine Gedanken um Philippe und Jerôme. Eigentlich sollte ich am Tag meiner Hochzeit überglücklich sein, doch ich fühle mich, als führe man mich zum Schafott.
Daddy trägt den Kopf ganz aufrecht vor Stolz, doch sein Gesicht ist puterrot. Er steht genauso ungern im Mittelpunkt wie ich und ist schon jetzt in den Hochzeitsschritt verfallen, obwohl der nur für die Kirche vorgesehen ist. Ich ziehe meine Mundwinkel nochmals nach oben und richte endlich den Blick auf Philippe, der mit strahlenden Augen und Stolz im Blick jeden einzelnen meiner Schritte verfolgt. In dem Moment fällt mir ein, dass die Helfer vom Hochzeitsservice vergessen haben, die hochgesteckte Schleppe zu lösen. Die Jungs sind anscheinend doch nicht so perfekt. Nicht ganz so unperfekt wie ich, aber immerhin.
Als ich mich dem vorderen Bereich des Trausaals nähere, habe ich keine Ahnung, ob sich sämtliche geladenen Gäste eingefunden haben, ich weiß auch nicht, wie lange Daddys und mein Gang bis zu dem wuchtigen, mit allerlei Schnitzereien verzierten Schreibtisch gedauert hat. Als er mich meinem Bräutigam übergibt, habe ich das Gefühl, hinter mir läge ein Marathon.
Vorsichtig nimmt Philippe mich in die Arme, aber nur ganz kurz, um mich ganz züchtig mit Küsschen links, Küsschen rechts zu begrüßen. Der für Philippe so typische Sandelholzduft steigt mir in die Nase und ich fühle mich seltsamerweise ein wenig besser. Philippe nickt meinem Vater zu, bevor er sich ebenso knapp bei Jerôme bedankt, der sich rechts von ihm postiert.
Als ich Jerôme hinter Philippe erblicke, wird mir schon wieder ganz übel. Schnell wende ich mich zu Jane um, die an meiner linken Seite steht. Jetzt entdecke ich auch Mary-Beth und Mel. Sie sitzen in der ersten Reihe, neben meiner schon jetzt vor Rührung schluchzenden Mom, die sich ganz eng an Dad quetscht. Mary-Beth und Mel sehen hinreißend aus in ihren Traumkleidern. Ich zwinkere ihnen zu, vermeide es aber, ihnen allzu intensiv in die Augen zu sehen.
„Oh, Annie, du bist so wunderschön!“, haucht Jane und umarmt mich ebenso vorsichtig wie Philippe dies zuvor getan hat. Ihr Gesicht ist ganz nah an meinem, als sie, in einer komplett anderen Stimmlage, in mein Ohr zischt: „Philippes Trauzeuge – das ist doch wohl nicht etwa der, von dem ich glaube, dass er es ist?“
„Oh, Jane“, stöhne ich nur, bevor ich mich von ihr abwende und meine Augen auf den Standesbeamten hefte.
Ich bin heilfroh, dass ich Philippe während der gesamten Zeremonie nicht ansehen muss. Absichtlich drehe ich mich auch nicht nach rechts, denn ich könnte es nicht noch einmal ertragen, gleichzeitig Philippe und Jerôme zu sehen. Auch Philippes Eltern, die sicher in der ersten Reihe hinter Philippe sitzen, will ich möglichst spät begrüßen. Wenn die wüssten, was ihre neue Schwiegertochter für eine ist …
Krampfhaft starre ich auf den lächerlichen Spitzbart des Standesbeamten. Zum Glück redet der Mann in einer Tour, auch wenn nicht ein Wort davon bis in die verworrenen Windungen meines Gehirns vordringt. Dies alles ist so surreal. Wie vereinbart Jerôme es mit seinem Gewissen, dass er vor ungefähr vierundzwanzig Stunden die Frau seines Freundes gevögelt hat? Was ist das für ein Kerl, der einer Frau am Tag ihrer Hochzeit ein Strumpfband schenkt? Noch dazu hat er gewusst, dass ich die Frau seines Freundes bin. Es war kein Versehen. Jerôme hätte sich ebenso wenig mit mir einlassen dürfen wie ich mich mit ihm! Soviel steht fest.
„ Mademoiselle Salinger“, reißt mich der Spitzbart aus den Gedanken.
„Ja?“
„Wunderbar. Damit sind sie ab sofort Mann und Frau. Monsieur Duvall, die Ringe.“
Oh. Ich bin verheiratet. Fassungslos über mich selbst schüttele ich den Kopf.
Jane rammt mir einen Ellbogen in die Taille, den ich wegen des Mieders kaum
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