Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Insassen der Kutsche versteinerten, seine Augen sich vergrößerten und ihm nachstarrten, als wäre er ein Gespenst
„Mon Dieu, es gibt Euch wirklich!“, hörte er einen erschrockenen Ausruf, dann war Marcels unruhiger Schimmel schon vorbeigetrabt.
Napoleon hieß den Kutscher unverzüglich anhalten und stieg aus, doch es war kein Durchkommen durch die Menge für einen Fußgänger, geschweige denn für eine Kutsche. Der Reiter war schon viel zu weit entfernt. Napoleon runzelte die Stirn. Dieser Mann mit dem wehenden schwarzen Haar unter dem Hut und dem bronzefarbenen Teint, der gerade vorbeigeritten war, schien so jung wie das Antlitz auf dem Gemälde, auch wenn er die Person nur bei Nacht gesehen hatte .
Das ist unmöglich! Das Originalgemälde stammt noch aus der Zeit des Sonnenkönigs. Täuschen mich denn alle meine Sinne?
Stimmten die Gerüchte, die man ihm hinter vorgehaltener Hand erzählt hatte, dass dieser Mann auf dem Gemälde ein übernatürliches Wesen sei? Oder bestand nur eine frappierende Ähnlichkeit mit dem unbekannten Reiter, die solche Gerüchte aufkommen ließ? Fest stand, dass der geheimnisvolle Marquis de Montespan mit diesem jungen Mann in enger Verbindung stand. Er fühlte seine Vermutung bestätigt, dass okkulte Mächte im Spiel waren.
Gedankenvoll stieg der Erste Konsul wieder in das Gefährt und setzte die Fahrt zum Opernhaus fort.
Den darauffolgenden Tag verbrachte der Chevalier Saint-Jacques in einer unscheinbaren Herberge, bevor er am Abend nach seinem Pferd sah. Nach wie vor war das Attentat auf den Konsul Gesprächsthema Nummer Eins in Paris und im Umland. Aber das war etwas, was Marcel weniger berührte. Der Geruch von Tod und Blut war ihm als Vampir gar zu vertraut. Dennoch gingen auch ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Scheinbar hatte Townsend wohl Recht gehabt. Dann war da noch die Tatsache, dass Julien hier in Paris war. Sollte er ein Treffen forcieren? War es Neugierde oder Sehnsucht, die ihn dazu trieb, sich zumindest nach der Adresse des Marquis zu erkundigen?
Als er diese in Erfahrung gebracht hatte, ritt er los. Er war erstaunt, das großzügige Haus hell erleuchtet vorzufinden. Gäste gingen dort ein und aus. Kutschen fuhren vor oder warteten auf ihre Passagiere. Von drinnen ertönte Musik und Gelächter. Marcel trieb den Hengst neben eine der wartenden Kutschen und fragte den livrierten Bediensteten oben auf dem Bock. „Sagt mir, welches Fest feiert der Marquis heute Abend? Dies erscheint mir mehr als eine weihnachtliche Feier zu sein.“
Der Bedienstete wandte sich dem Fragesteller zu und grüßte den Höhergestellten. „Monsieur, heute am ersten Weihnachtstag wurde die Verlobung zwischen dem Marquis de Montespan und der Bankierstochter Marie Devereaux bekannt gegeben. Alles ist geladen, was Rang und Namen hat. Hat man denn Euch nicht benachrichtigt? Eurer Kleidung und Eurem Pferd nach zu schließen seid auch Ihr von adeliger Herkunft.“
Marcel schwieg. Das eben Gehörte hatte ihm einen leichten Schock versetzt. Sein Mentor und enger Freund heiratete eine Sterbliche? Da musste doch mehr dahinter stecken. Sollte er es wagen und sich unauffällig unter die Gesellschaft mischen? Wie würde Julien auf seinen unverhofften Besuch reagieren? Sollte er nicht erleichtert sein, dass nun auch der Marquis nicht mehr allein die kommenden Jahre fristen würde, nachdem er selbst mit Silvio zusammen gekommen war? Wie lange würde eine solche Ehe überhaupt von Bestand sein bei einem menschlichen Partner, dessen Schönheit und Attraktivität so vergänglich war? Wollte er Marie, dieses unvernünftige halbe Kind, etwa zu einer Vampirin wandeln? Nein, er brauchte Gewissheit über die Pläne des Marquis!
Marcel stieg entschlossen aus dem Sattel und drückte die Zügel dem verdutzten Kutscher in die Hand „Gib auf ihn acht, es wird nicht lange dauern!“, befahl er ihm und stieg die wenigen Stufen zum Eingang hinauf.
Zwei Diener in roten, mit Goldlitzen versehenen Uniformen empfingen dort die Gäste, halfen ihnen aus den Mänteln und nahmen die Geschenke für das junge Paar in Empfang. Unbemerkt mischte sich der Chevalier unter die Gesellschaft und schaute sich um. Prunkvolle Kleider, geschminkte Gesichter, die den üblichen Klatsch zum Besten gaben. Er beachtete nicht die Begrüßungen der Gäste, an denen er achtlos vorbei ging. Diener offerierten Gläser voll mit edlem Champagner. Marcel lehnte dankend ab. Seine Augen schweiften weiter über die Menge. Die Damen fächelten
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