Im Bann der Lilie (Complete Edition)
sich Luft zu, um die leicht geröteten Wangen zu kühlen. Die Herren unterhielten sich wie üblich über Politik und Geschäfte. Den Marquis konnte er weit und breit nicht entdecken. Unter den ganzen ihm unbekannten, ausdruckslosen Gesichtern fiel ihm plötzlich eines ins Auge, das den verräterischen Glanz der Hörigkeit in den Augen trug. Er kannte diesen jungen Mann: Es war Clement Devereaux, und zweifelsohne hatte der Kontakt mit einem Artgenossen von Marcel gehabt. Dieser konnte sich auch denken, mit welchem: Offenbar war der Marquis bei den Zwillingen nicht gerade wählerisch gewesen. Ihm war diese Neigung des alten Adels aus der Vergangenheit der Königsregentschaft durchaus vertraut. Eine Heirat zur Tarnung? Das hatte Julien nicht nötig, denn als Vampir brauchte er sich den menschlichen Gepflogenheiten nicht zu beugen. Hatte der Bankier nun den Marquis als Schwiegersohn geködert, nachdem er selbst dessen zweifelhaftes Angebot abgelehnt hatte?
Teufel noch eins, welches Spiel treibt Julien da bloß?
Er beschloss, ein paar Worte mit Clement zu wechseln und wollte sich gerade durch die Menge zu ihm vordrängen, als er eine Hand auf seiner Schulter ruhen fühlte.
„Endlich, mein verlorener Freund ist zurückgekehrt.“
Marcel fuhr herum und blickte in das grausam-sanfte Gesicht seines Erschaffers. Durchdringend blaue Augen durchbohrten ihn. Julien lächelte, doch wirkliche Wiedersehensfreude konnte Marcel in diesem Lächeln nicht entdecken. Der Marquis beugte sich leicht vor.
„Folgt mir in mein Arbeitszimmer, ich würde Euch gerne unter vier Augen sprechen“, flüsterte er in Marcels Ohr.
Dieser nickte nur zustimmend, und die beiden Männer verließen die Gesellschaft. Als der Marquis die Tür im ersten Stock des Hauses hinter sich schloss, verstummte das menschliche Stimmengewirr, das bis hier hinauf zu hören gewesen war.
„Welch wohltuende Ruhe nicht war? Man hat das Gefühl, einer Herde schnatternder Gänse entkommen zu sein“, stellte der Marquis fest. Hier fiel er in nun auch in das vertraute „Du“ zurück, das zuvor zwischen ihnen geherrscht hatte.
„Darf ich dir etwas anbieten? Ich meine aber natürlich keinen Alkohol.“ Mit diesen Worten griff der Aristokrat nach einer dunkelblauen Karaffe, in der sich das kostbare Blut-Weingemisch befand, das er so bevorzugte. Er goss sich selbst ohne zu zögern ein Glas ein, als Marcel ablehnte. Das erste, was der Chevalier in diesem elegant eingerichteten Raum bemerkte, war sein verschollenes Portrait über dem Kamin. Wie war es damals aus dem Schloss Montespan gekommen? Laut Townsend sollte es doch in Besitz von Napoleon sein? Aber diese Fragen erschienen ihm derzeit weniger wichtig als die Zukunftspläne des Marquis.
„Was hast mit Clement und Marie vor?“, fragte der Chevalier nun gerade heraus.
Der Marquis lachte auf. „Marie wird mich mit allen Annehmlichkeiten des Lebens in den nächsten Jahren versorgen, dafür darf sie diesen lächerlichen Titel bis zu ihrem Tode führen, was ihren Vater sehr, sehr glücklich macht. Und Clement … ja, Clement, ist ein reizendes Spielzeug und ein gelehriger Schüler.“
Der Adelige trat nun auf seinen ehemaligen Protegé zu und blickte ihm direkt in die Augen.
„Er war bislang so rührend unschuldig. All die Dinge, die ich ihn gelehrt habe, hätte ich vor langer Zeit gerne dich gelehrt. Durch die halbe Welt bin ich deinen Spuren gefolgt, habe alle Unannehmlichkeiten in Kauf genommen, wäre vor Alexandria fast ertrunken, habe Bündnisse mit diesen elenden Sterblichen eingehen müssen und das alles nur, um zu erfahren, dass du dich mit einem dreckigen Schiffsjungen amüsierst.“
Die letzten Sätze klangen wie das Zischen einer Schlange, voller Zorn und Enttäuschung.
Marcel sah zu Boden. Er erinnerte sich plötzlich an die ferne Stimme in seinem Kopf, die er damals auf der CULLODEN gehört hatte: „Marcel, je t´attends.“ So nah war ihm Julien damals gewesen? Dann musste er sich auf einem der anderen Schiffe aufgehalten haben. Aber woher konnte er dann überhaupt von Silvio wissen?
Ich war dir sehr viel näher als du ahnst, dachte der Marquis undbetrachtete den Chevalier mit wissendem Blick. Im Schein der Kerzen hatten Marcels streng zurückgekämmten Haare einen blauschwarzen Schimmer angenommen. Zusammen mit dem goldfarbenen Teint und den tiefschwarzen Augen unter den langen Wimpern eine wahre Verlockung für ihn. Am liebsten hätte er den jungen Vampir in seine Arme gerissen, jetzt, wo sie
Weitere Kostenlose Bücher