Im Bann der Lilie (Complete Edition)
sich der Marquis. Ohne ein Wort des Abschieds wandte er sich zur Tür. Kurz davor drehte er sich noch einmal um und ging zurück zu der jungen Comtesse, die wie ein verstörtes Kind mitten im Raum stand. Er fasste ihr Kinn mit zwei Fingern und hob ihren Kopf, zwang sie, in seine Augen zu schauen. Ihr Gesicht war leidlich hübsch zu nennen.
„Wenn ich es wollte, dann würdet Ihr mir hier und jetzt zu Willen sein, aber selbst ich verachte Euch! Euer Blut ist mir zu verdorben!“
Mit diesen Worten verließ er den Salon und ließ sich in der Halle vom Diener Umhang und Dreispitz reichen. Derselbe Diener öffnete ihm mit einer tiefen Verbeugung die Eingangstür. Es regnete in Strömen. Das Gewitter war weiter gezogen. Von Ferne war noch das Wetterleuchten zu sehen. Die Luft roch nach Elektrizität und einer intensiven Reinheit. Der Boden dampfte wie in einer Waschküche. Der Marquis atmete tief durch, als er die Treppe hinunterging und wieder in die Kutsche stieg. Die Pferde zogen an. Marcel wusste instinktiv, dass er nie wieder hierher zurückkehren würde.
Es dauerte einige Minuten, bis der Marquis zu einem Bericht ansetzte. Der junge Saint-Jacques hörte wortlos zu, während er zum Fenster hinausstarrte. Sein Verdacht hatte sich bestätigt. Für einen Moment kam der Gedanke an Rache in ihm hoch. Wäre seine Halbschwester ein Mann gewesen, so hatte er diesen ohne zu Zögern zum Duell gefordert. Aber eine Frau töten? Der Marquis schien jeden seiner Gedanken zu kennen.
„Ein Degen wäre nicht die geeignete Waffe“, lächelte er verständnisvoll.
Marcel schaute ihn verblüfft an. Im Dunkeln der schwankenden Kutsche erschien ihm das Gesicht des Marquis plötzlich von merkwürdiger Härte.
„Es scheint, Ihr lest meine Gedanken“, bemerkte er.
„Nun, das ist nicht schwer. Aufgrund meiner Lebenserfahrung sind mir solche Situationen durchaus vertraut. Ihr seid nicht der Einzige, der durch eine Frau ins Unglück gestürzt wurde“, gab der Marquis zur Antwort und griff nach einer Prise Schnupftabak aus einer kleinen, silbernen Dose.
„Und was schlagt Ihr vor?“, fragte Marcel jetzt.
„Wenn Euch wirklich der Sinn nach Rache steht, so gibt es eine Reihe von mehr oder minder schmerzlosen Giften, die für eine Mörderin durchaus angebracht wären.“
Der Adelige sagte dies in einem Tonfall, als wolle er dem Jungen eine Landpartie vorschlagen. Marcel schüttelte heftig den Kopf. Dazu wäre er niemals in der Lage.
Der Marquis seufzte laut. „Wähnt Euch nicht in Sicherheit, mein Freund. Eure Halbschwester wird alles tun, um Euch zu vernichten. Ich habe in ihre Augen gesehen, und sie wird nicht eher ruhen, bis Ihr tot zu ihren Füßen liegt.“
„Soviel Hass empfindet sie für mich?“
Der Junge war richtig zusammengezuckt bei dem letzten Satz.
„Dabei habe ich ihr niemals etwas zu leide getan.“
Fast mitleidig schaute der Marquis seinen Schützling an.
„Elise hat sich schon früh ihre eigene Welt geschaffen. Für sie kommt jede Rettung zu spät. Nur der Tod kann sie von ihrem Hass erlösen.“
Wieder klang es wie ein Vorschlag, doch Marcel ging nicht darauf ein. Er empfand nicht einmal genug Abscheu, um seiner Schwester so etwas anzutun. Julien war enttäuscht. Er hatte insgeheim gehofft, dass er Marcel auf die dunkle Seite der menschlichen Emotionen hinüberziehen konnte, um ihm den Eintritt in seine Welt zu erleichtern. Aber dieser Plan war nicht aufgegangen. Noch nicht!
Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr auf Schloss Montespan rief der Marquis seinen Schützling eines Abends zu sich. Die Tage waren bereits kürzer geworden. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und die ersten Blätter an den Bäumen begannen, sich in bunte Farben zu hüllen.
„Mein lieber Marcel“, begann der Marquis fast feierlich, als der Junge die Bibliothek betrat. „Da Euer achtzehnter Geburtstag mit dem Beginn der Ballsaison zusammenfällt, werde ich Euch zu Ehren ein Fest geben, um Euch in die höchsten Adelskreise einzuführen. Und ganz nebenbei bemerkt, ich habe eine besondere Überraschung für Euch, aber dazu komme ich später!“
Marcel strahlte über das ganze Gesicht.
Der Marquis winkte ab.
„Genug der Dankbarkeit. Ihr solltet Euch doch in den letzten Monaten an dieses Leben gewöhnt haben.“
In der Tat hatte sich der junge Saint-Jacques gut eingelebt und den ungewöhnlichen Lebensrhythmus im Schloss Montespan als völlig normal akzeptiert. Dazu gehörten nächtliche Ausritte mit dem Marquis ebenso wie die
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