Im Bann der Lilie (Complete Edition)
dass dies eine Falle sein musste. Elise hasste sie, hasste alles, was ihr Vater einst geliebt hatte.
„Trink!“, forderte die junge Herrin erneut und nahm selbst einen Schluck aus ihrem eigenen Glas. Alina trank.
Der Wein schmeckte bitter. So bitter wie das Leben, dass dieses böse junge Ding ihr beschieden hatte.
„Trink aus!“
Die Stimme der Comtesse überschlug sich fast. Vielleicht war es besser, dieses Leben zu beenden. Alina trank. Noch bevor sie den letzten Schluck nehmen konnte, zerbrach das Glas auf dem Holzboden, und sie sank unter Krämpfen zusammen. Ein letzter hilfesuchender Blick traf Elise, aber deren Augen blickten kalt auf die sich vor Schmerzen windende, einst so schöne Frau, von der sie glaubte, dass diese ihren Vater verführt hatte. Welch eine Genugtuung! Nach ungefähr zehn Minuten war der Todeskampf vorbei. Elise läutete erneut
„Holt einen Arzt, Alina hat den Wein wohl nicht vertragen“, wies sie die eintretende Zofe an.
Diese warf einen erschrockenen Blick auf die Leblose und dann auf die Comtesse.
„Nun geh schon, dummes Ding!“
Die Zofe eilte davon, ihr Schluchzen konnte Elise noch durch die geschlossene Türe hören. Eine tiefe Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Fast erschöpft setzte sie sich in den Stuhl ihres Vaters hinter dem großen Schreibtisch aus Mahagoniholz. Nun sollte ihr Bruder leiden, so wie sie ihr ganzes Leben lang gelitten hatte. Nun sollte Marcel so einsam sein, wie sie sich ihr Leben lang gefühlt hatte. Elise atmete tief durch, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen.
Natürlich kam der Arzt zu spät und stellte einen plötzlichen Herztod fest. Schließlich war Alina eine alte Frau gewesen. Nun musste Elise nur noch ihrem Halbbruder ihr Bedauern über das Ableben seiner geliebten Mutter mitteilen! Wie gerne sie doch dieser Pflicht nachkam! Als sie diese verlogenen Zeilen schrieb, musste sie lachen. Was für eine brillante Intrigantin sie doch war!
Die Post traf zwei Wochen später im Schloss Montespan ein. Hastig zerbrach Marcel Saint-Jacques das Siegel und überflog die wenigen Zeilen. Seine Knie begannen zu zittern, und er setzte sich rasch auf einen der zerbrechlich wirkenden Stühle. Ein Schwindel hatte ihn erfasst. Seine geliebte Mutter war verstorben. Das Schlimmste aber war, dass seine Halbschwester die Leiche bereits in einem der namenlosen Armengräber im Gemeindefriedhof hatte bestatten lassen und er nicht einmal mehr die letzte Ehre erweisen konnte. Es gab keinen Ort der Trauer für ihn. Was für ein durchtriebenes Geschöpf Elise doch war! Ohne, dass er es bemerkte, rannen Tränen über seine Wangen, tropften auf den Spitzenkragen seines Hemdes, über dem er eine bunt bestickte, leichte Seidenweste trug. Er gab keinen Laut von sich, weinte nur still vor sich hin, als der Marquis die Freitreppe hinunter kam, um in seinem Arbeitszimmer zu verweilen, wie er es an jedem Vormittag zu tun pflegte. Julien hob wortlos den Brief vom Boden auf und warf einen Blick darauf. Eine Zornesfalte erschien auf seiner sonst so faltenlosen Stirn. Er legte seine manikürte Hand auf Marcels Schulter.
„Wenn Ihr reden möchtet, Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“
Normalerweise wünschte er keinerlei Störungen, wenn er bis zum frühen Nachmittag die geschäftlichen Angelegenheiten erledigte. Das Mittagessen wurde ihm in einem Tablett vor die Türe gestellt und er stellte es leer wieder hinaus. An einem Tag wie heute würde er jedoch eine Ausnahme machen und sich ganz dem Kummer seines Mündels widmen. In den letzten Wochen hatte der Marquis viel über den Jungen erfahren. Er brachte wirklich alle Voraussetzungen mit, um würdevoll in sein Erbe zu treten. Sein Anwalt hatte die juristische Anerkennung der Vormundschaft für Marcel Saint-Jacques durch den Marquis und dessen Erbfolge bereits erledigt. Nun standen dem einst so unerwünschten Bastard auch die Tore des Hofes in Paris offen! Der König selbst würde ihn empfangen, ohne nach seiner tatsächlichen Herkunft zu fragen.
Aber all das zählte für Marcel in diesem Augenblick der Trauer nicht mehr. Er starrte mit leerem Blick an die gegenüberliegende Wand. Seine Tränen waren versiegt. Die Sache mit dem Jagdunfall seines Vaters kam ihm wieder ins Gedächtnis. Hatte Elise ihrer beider Vater auf dem Gewissen? Und jetzt der unerwartete Tod seiner Mutter, die sich bei seinem Weggang bis auf die Zipperlein des Alters doch noch bester Gesundheit erfreut hatte?
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