Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Marcel hatte das Gefühl, dass ihm der Schädel platzte. Wurde er vielleicht langsam verrückt? Er musste mit dem Marquis darüber sprechen!
Zaghaft klopfte er wenige Minuten später an die Türe des Arbeitszimmer, welches neben der Bibliothek lag.
„Tritt ein, mein Sohn!“, diesmal klang die Stimme des Marquis eher weich und verständnisvoll. Marcel betrat den Raum. Auch dieser wurde nur von Kerzen erleuchtet, obwohl draußen erneut die Sonne schien und die Vögel jubilierten. Aber daran hatte der Junge sich bereits gewöhnt. Er setzte sich gegenüber dem Kamin, der auch im diese warme Jahreszeit in Betrieb war. Überall, wo sich der Marquis aufhielt, musste der Raum geheizt und verdunkelt sein. Daher herrschte eine tropische Temperatur in diesem Zimmer. Jedem Besucher hätte nach wenigen Minuten der Schweiß auf der Stirn gestanden, doch der Marquis transpirierte nie. Aber auch Marcel vertrug aufgrund seiner exotischen Abstammung diese hohen Temperaturen ohne Anstrengung. Einmal hatte de Montespan seinem Schützling erklärt, dass seine empfindliche Haut sonst Schaden leiden würde aufgrund einer seltsamen Krankheit, die er aus Osteuropa mitgebracht hatte. Das sei auch der Grund, warum er nur nach Sonnenuntergang unterwegs war. Marcel war einmal aufgefallen, dass sein Gönner sorgfältig alle Gänge mit Fensterfluchten vermied, durch die tagsüber das Sonnenlicht in das Gebäude strahlte. Er hatte sogar diverse Geheimgänge anlegen lassen, durch die er die wichtigsten Teile des Schlosses erreichten konnte, ohne sich dem Licht auszusetzen! Die Dienerschaft hatte sich schon seit Jahren damit abgefunden und tat, wie ihr geheißen. Allerdings stellte der Marquis alle fünf Jahre komplett neues Personal für das Schloss ein. Er entlohnte die Entlassenen mit einem gut gefüllten Beutel. Warum er das tat, wusste niemand.
Julien reichte dem Jungen nun ein filigranes Spitzentaschentuch, das er aus seinem weit geschnittenen Ärmel zog.
„Wischt Euch die Tränen ab. Der Tod Eurer Mutter ist bedauerlich, doch Euer Leben fängt gerade erst an.“
In Gedanken führte der Marquis diesen Satz fort: „Und wird in der Ewigkeit enden.“
„ Das allein ist es nicht, Marquis“, wandte Marcel ein, als er sich schnäuzte. „Ich hege einen fürchterlichen Verdacht. Vielleicht werde ich ja auch wahnsinnig.“
Der Marquis schmunzelte. Wahnsinn sah anders aus, das wusste er. Aber er schwieg und ließ den Jüngling gewähren.
„Was Ihr berichtet, klingt plausibel, doch ich wüsste nicht, wie wir Euren Verdacht beweisen sollen, es sei denn, Eure Halbschwester würde ein Geständnis ablegen. Ich glaube nicht, dass das jemals freiwillig geschehen wird. Aber selbst dann würde sie aufgrund ihrer hohen Herkunft nur mit Verbannung zu rechnen haben. Jeder arme Schlucker dagegen würde gehängt.“
Marcel überlegte.
„Vielleicht wäre sie in einem ihrer Wutausbrüche dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen.“
„Sie hat Euch Hausverbot erteilt, vergesst das nicht. Sie kann Euch sogar von den Schergen des Königs festnehmen und arrestieren lassen, wenn ihr dieses Verbot missachtet.“
„Ich weiß“, gab Marcel kleinlaut zu.
Der Marquis schien zu überlegen, hatte in Wirklichkeit aber bereits einen Plan gefasst. Aber noch plagten ihn Zweifel. War es zu früh, den Jungen zu initiieren? Konnte er dessen Zuneigung durch das Geständnis der Schwester erringen? Oder sollte er es dem Jungen selbst überlassen, über die Comtesse zu richten? Er wollte, dass Marcel aus freien Stücken zu ihm fand und ihn als Gefährte durch die Jahrhunderte begleitete. Was aber, wenn dieser sich mehr zum weiblichen Geschlecht hingezogen fühlte? Vielleicht konnte man das noch beeinflussen? Da kam dem Marquis der Verdacht gegen Elise Saint-Jacques gerade recht.
„Ich mache Euch einen Vorschlag“, meinte de Montespan jetzt. „Ihr reist unter meinem Schutz und in meiner Begleitung zu Eurer Halbschwester. Ihr werdet in der Kutsche warten, während ich mit ihr eine Unterredung führen werde. Aber Ihr müsst mir versprechen, Euch nicht vom Fleck zu rühren, egal, was geschieht.“
Marcel blickte den Marquis voller Dankbarkeit an.
„Wieder einmal weiß ich nicht, wie ich Euch meine Dankbarkeit bezeugen soll“, sagte er.
„Das ist auch nicht nötig, mein Junge. Wir brechen noch heute Abend auf.“
Während der tagelangen Reise in der Sommerhitze fieberte Marcel allein der Wahrheit entgegen. Der Marquis sorgte dafür, dass die Kutsche am frühen
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