Im Bann der Lilie (Complete Edition)
ihn gleichzeitig. Um seine Verlegenheit zu überspielen, legte er Umhang und Hut ab, zog die Stiefel aus und legte sich auf das unbequeme Bett, dessen Strohmatratze ihn durch die Decke piekte. Graziella lachte leise auf, als sie sein Unbehagen bemerkte.
„Ihr seid es wohl nicht gewohnt, als einfacher Mann zu leben“, stellte sie spöttisch fest.
„In der Tat, da habt Ihr recht!“, seufzte Marcel. „Aber da ich nicht weiß, ob mir jemals wieder etwas Besseres zuteilwird, bin ich Euch sehr dankbar, dass Ihr mir Unterschlupf gewährt.“
„Seid Ihr auf der Flucht vor den Marodeuren?“
Marcel nickte.
„Aber …“ Graziella überlegte kurz. „Wir Zigeunerfrauen wissen um die Bedeutung der Lilienringe“, begann sie dann wieder. „Ihr seid ein Geschöpf der Nacht und weitaus machtvoller als diese tobenden Bauern.“
Das klang eher wie eine Frage.
„Die tobenden Bauern sind leider in der Überzahl“, scherzte Marcel und fragte nun seinerseits: „Aber sagt mir, fürchtet ihr euch nicht vor diesen Revolutionären? Sie haben in dieser Nacht das Anwesen des Marquis de Montespan in Brand gesteckt.“
„Wir sind arme Leute. Die tun uns nichts“, erwiderte die hübsche Frau.
Auch sie hatte sich nun auf ihr Nachtlager begeben. Sie lag nun so dicht neben ihm, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.
„Wir bieten Unterhaltung für jeden, der uns sehen will und uns eine Münze zuwirft. Das ist unser Leben“, sagte sie und blies die Kerze aus.
Sie hielt jetzt die Hände hinter dem Kopf verschränkt und blickte an die Decke, als könne sie hindurch bis zu den Sternen sehen. Marcel hingegen konnte auch im Dunkel sehen. Er bemerkte, wie sich ihre vollkommenen Brüste unter der Bluse leicht hoben und senkten. Dabei kam ihm in den Sinn, dass er eigentlich hungrig war. Er würde nun für sich selbst sorgen müssen. Und dieser Anblick neben ihm war recht verlockend.
„Wer ist eigentlich die alte Frau, die mich zu Euch geführt hat?“
„Das ist Lucia, unsere Wahrsagerin und Anführerin. Und meine Mutter“, schmunzelte die Tänzerin und wandte ihm nun den Kopf zu.
„Wenn sie Euch willkommen heißt, wird unsere Truppe nichts dagegen haben, dass Ihr mit uns reist. Wir sind auf den Weg an die Küste. Eigentlich wollten wir nach Paris, aber das ist im Moment ein Pulverfass“, erklärte sie.
Sie besaß die gleichen tiefbraunen Augen wie ihre Mutter. Doch ihr Gesicht war wesentlich feiner in den Zügen. Der volle Mund und ihr durchtrainierter Körper mussten in jedem Mann, der sie sah, ein natürliches Begehren auslösen. Auch Marcel erging es nicht anders. Nicht nur ihre Schönheit zog ihn magisch an, sondern vor allem ihre Natürlichkeit, die so ganz im Gegensatz zu den gepuderten, parfümierten und mit Perücken verunstalteten Damen des Adels stand, die er bislang kennen gelernt hatte. Das hier war eine wilde Orchidee. So ursprünglich wie eine Evastochter nur sein konnte. Allerdings war sie – menschlich gesehen – mindestens zehn Jahre älter als er und hatte bestimmt schon Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt.
Graziella bemerkte das Verlangen in seinem Blick, aber auch sein Zögern. Zunächst verstand sie nicht, warum er sich ihr nicht nähern wollte. Seit langer Zeit war ihr kein so hübscher Galan mehr begegnet. Zudem einer, der von nicht zu unterschätzender Gefährlichkeit war. Und Graziella liebte die Gefahr, sonst wäre sie nicht Schlangentänzerin geworden. Den ungeschliffenen Männern aus ihrer Schaustellertruppe verweigerte sie ihre Gunst, obwohl es zwei gab, die sie sogar vom Fleck weg geheiratet hätten. Aber Graziella liebte ihre Unabhängigkeit. Gefiel sie diesem Jungen hier etwa nicht? Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus, strich sanft mit dem Zeigefinger über Marcels Wange bis hinunter zu seinen Lippen, wohl wissend, welch tödliche Waffen sie verbargen.
Ihr attraktiver Gast schloss die Augen, kam ihr aber nicht entgegen. Jetzt erst erriet die schöne Zigeunerin, dass dieser Junge noch gar keine Erfahrungen mit Frauen haben mochte. Umso reizvoller war nun Marcels Eroberung für sie. Graziella ging einen Schritt weiter, beugte ihren Kopf über den Liegenden, so dass ihr langes Haar bis auf seine Brust fiel. Es roch nach Wald und Sommer. Ihr Mund berührte den seinen, erst wie ein Hauch, dann immer lockender. Er genoss die weiche Haut, ihren warmen Atem, der ihn daran erinnerte, wie abhängig er von der Lebenskraft anderer Geschöpfe war. Er konnte
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