Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Hut, als Zeichen, dass er verstanden hatte.
Marcel Saint-Jacques wusste zunächst nicht, wohin er sich überhaupt wenden sollte. Warum hatte sein Freund und Gönner ihm nicht einen Ort genannt, wo sie sich treffen konnten? Er fühlte sich plötzlich von dem Marquis allein gelassen. Erst dieser überwältigende Beweis seiner Zuneigung und nun? Marcel fühlte sich jeglicher Sicherheit beraubt. Immer deutlicher wurde die Gewissheit, dass es für Geschöpfe wie ihn keine dauerhafte Zuflucht geben konnte. Zunächst aber galt es, eine Unterkunft zu finden, bevor in wenigen Stunden der Tag anbrach! Hinter einer Weggabelung entdeckte er den Schimmer eines Lagerfeuers und hielt darauf zu. Ein Hund begann, bei seinem Näherkommen zu bellen, und eine zischende Stimme befahl dem Tier, Ruhe zu geben. Der junge Chevalier erkannte, dass es sich um einen kleinen Wanderzirkus handeln musste, der hier Rast machte. Die buntbemalten Wagen ließen darauf schließen, dass sie aus dem fernen Italien stammten. Ein paar angepflockte Ponys grasten in der näheren Umgebung. In einem Käfigwagen taumelte ein großer Tanzbär mit einem Ring durch die Nase gelangweilt von einer Pfote auf die andere. Vor einem der Feuer saß eine alte Frau, daneben ein knurrender Wolfsspitz, der den Reiter nicht aus den Augen ließ. Marcel stieg vom Pferd und nahm grüßend den Hut ab. Die Alte betrachtete den nächtlichen Ankömmling von oben bis unten. Unter dem wallenden grauen Haar lag ein herbes Gesicht, gezeichnet mit dem Spuren eines entbehrungsreichen Lebens. Ihre Kleidung war ärmlich aber sauber. Ein Schultertuch wärmte sie zusätzlich. Dunkelbraune Augen schienen durch Marcel hindurch zusehen, blieben für einen Moment an dem Ring an seiner Hand hängen.
„Ich weiß, was du bist!“, meinte die Alte und deutete mit einem Stock auf das Schmuckstück. Marcel hob die Arme.
„Ihr braucht Euch nicht zu fürchten.“
„Tue ich nicht, mein Junge, tue ich nicht. Deine Hautfarbe verrät dich nicht unbedingt als Franzosen, aber dieser Ring verrät deine Herkunft!“, erwiderte die Zigeunerin zynisch.
Ihre Stimme klang wie ein heiseres krächzend.
„Besser du trägst ihn mit einer Kette um den Hals. Oder gib ihn gleich mir!“, schlug sie vor und klopfte sich lachend mit der Hand auf das Knie.
Aus dem Wagen hinter ihr ertönte die barsche Stimme eines Mannes, der fluchend um Ruhe rief. Die alte Frau legte den Finger auf den Mund.
„Das ist Giacomo, ein alter Griesgram und mein Sohn. Eigentlich sollte er die Nachtwache halten, aber er trinkt zuviel, und ich kann sowieso nicht schlafen.“
Sie stand mühsam auf und winkte ihn vom Feuer fort. Sein Pferd hinter sich her ziehend, folgte Marcel ihr. Dabei überlegte er immer noch, ob ihre Anspielung über ihn sich auf die adelige Herkunft oder seine Existenz als Vampir bezog. Die Alte klopfte leise an die Tür eines anderen Wohnwagens, die kurz darauf von einer jungen Schönheit mit schwarz glänzendem Haar geöffnet wurde.
„Graziella, hier ist ein Gast, den du verbergen musst. Er sollte sich stets im Schutze der Nacht aufhalten.“
Sie deutete mit den Augen auf die Hand des Jungen. Die mit Graziella Angesprochene schaute zu Marcel, und was sie sah, schien ihr zu gefallen. Auch sie erkannte das Zeichen auf seinem Ring. Dennoch bat sie ihn hinein. Die alte Zigeunerin schleppte sich zurück zu ihrem Feuer.
Marcel sattelte sein Pferd ab, band es am Wagen an und ging dann über die herunter gelassene hölzerne Stiege in das Innere. Graziella, die ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, schloss hinter ihm die Tür. Sie trug einfache Kleidung bestehend aus einer weißen, schulterfreien Bluse und einem bunten Rock. Schuhe besaß sie keine. Die schöne Fremde zündete eine Kerze an. Sie wies ihm eines der engen und dicht aneinander stehenden Betten zu, von denen es nur zwei im Wagen gab. Das ganze Gefährt war vollgestopft mit allerlei Hausrat, Vorräten, Kostümen und einem ungewöhnlich großen Korb.
Als sie Marcels Blick folgte, meinte Graziella nur „Meine Schlange lebt darin. Ich trete als Tänzerin auf.“
Sie hob den Deckel des Korbes hoch und ließ ihn einen Blick auf den riesigen, goldfarbenen Python werfen, der sich darin zusammengerollt hatte. Marcel konnte die Frau nur für ihren Mut bewundern, wenn er sich vorstellte, dass sie dieses Tier mit dem Umfang eines Männerarmes sich um ihren schlanken, wohlgeformten Körper winden ließ. Aber diese Vorstellung reizte
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