Im Bann der Lilie (Complete Edition)
sich nicht langer wehren und zog sie zu sich hinüber auf sein Lager. Während sie ihn und sich entkleidete, um ihn in die Geheimnisse der Liebe einzuweihen, überließ Marcel sich ganz ihrer Führung. Der absurde Gedanke kam ihm in den Kopf, ob ihre Mutter wohl wusste, was sie da tat. Aber dann beanspruchte Graziella all seine Sinne für sich.
Am nächsten Morgen erwachte er zum ersten Mal als Mann, und er war hungrig. Doch er musste sich gedulden, bis die Sonne wieder untergegangen war. Es hatte zu regnen begonnen. Die Wagen waren weiter gezogen und bahnten sich hintereinander auf ihren hölzernen Rädern Bahn durch den Schlamm der unbefestigten Wege. Je zwei Ponys zogen einen der Zirkuswagen. Ab und zu drang ein Ruf in fremder Sprache an sein Ohr. Dann schlief er wieder ein.
Als er am Abend wieder erwachte, regnete es immer noch ganz leicht. Die Truppe hatte ihr Lager auf einer Waldlichtung aufgeschlagen. Neugierige Augen starrten den Neuankömmling an, als dieser aus Graziellas Wagen trat. Marcel hatte den Rat der Alten befolgt und trug nun den verräterischen Ring an einem langen Lederband um den Hals. Unter dem weiten Hemd konnte ihn niemand sehen. Aber es fragte auch keiner, woher er kam. Hier zählte nur, wie er sein Brot verdienen konnte. Fast zurückhaltend grüßte er die um das Feuer sitzenden Menschen. Lucia kochte derweil eine einfache Suppe aus Linsen in einem großen eisernen Kessel, in dem sie mit einem langen Holzlöffel rührte. Die Suppe musste mit Wasser gestreckt werden, damit sie für alle reichen würde. Nacheinander lernte einen nach dem anderen kennen: Ricardo, der Bärenführer, und seine Frau Mariella, eine Seiltänzerin. Giacomo, dessen Stimme er bereits bei seiner Ankunft vernommen hatte, war als Schwertschlucker und Feuerspucker eine Attraktion. Er war ein Eigenbrötler und eher dem Wein als den Frauen zugetan. Giovanni und seine Schwester Angela zeigten eine gefährliche Messerwurfnummer, und die alte Lucia sagte den Leuten die Zukunft voraus. Giovanni selbst gehörte zu Graziellas heimlichen Verehrern ebenso wie der Dompteur Vito, der die Ponys in der Manege Kunststücke vorführen ließ. Alles und jeder hatte seinen Platz in dieser kleinen Gemeinschaft, in der man sich aufeinander verlassen musste, wenn man überleben wollte. Welchen Platz sollte nun Marcel einnehmen?
Der junge Mann überlegte nicht lange. Auch er wollte zum Wohl der Gemeinschaft beitragen, solange er mit ihnen reiste. Da er sowieso auf die Jagd musste, machte er sich noch an diesem Abend auf den Weg in den Wald, um für sie alle Nahrung zu beschaffen. Auf welche Weise er das tat, sollte niemanden interessieren. Er kam mit einer blutleeren Hirschkuh zurück, aber für die Menschen war das frische Fleisch ein Geschenk des Himmels. Giacomo klopfte ihm dankbar auf die Schulter. Zwei der Männer zerlegten das Tier und brieten es über einem selbstgebauten Spieß. Das Fleisch würde für mehrere Tage reichen! Zur Feier dieser erfolgreichen Jagd holte Giovanni seine Mandoline und begann, eine muntere Melodie zu zupfen. Graziella und Mariella sangen dazu, und die übrigen klatschten den Rhythmus. Trotz des trüben Wetters war die Stimmung ausgelassen, denn von diesem Abend an wurde nicht mehr gehungert.
Zwei Jahre gingen ins Land. Der kleine Zirkus zog durch die Küstenstädte und nahm erst dann wieder Kurs auf die Hauptstadt. Es war ein ruhiges, beschauliches und trotz der Unruhen im Land friedvolles Leben für Marcel, der den hellen Tag im Wagen verschlief und nach Sonnenuntergang seine Umgebung erkundete. An Graziellas Seite lernte er ein Leben kennen, das so ganz im Gegensatz stand zu der höfischen Etikette, die er bislang hatte befolgen müssen. Im Sommer lief er barfuß durch das Gras wie früher als kleiner Junge. Und er lernte wieder zu lachen. Niemand hätte vermutet, dass er in Wirklichkeit ein Vampir war. Ein glücklicher sogar! Wenn man die Tatsache außer Acht ließ, dass er erst nach Sonnenuntergang aus dem Wagen kam, um am Leben der anderen teilzuhaben. Dennoch blieb er immer eine Art Außenseiter. Damit würde er sich wohl abfinden müssen! Es gab in all der Zeit nur einen erwähnenswerten Zwischenfall. Am Anfang wollte Giovanni sich nicht damit abfinden, dass Graziella diesen daher gelaufenen Fremden aufnahm und anscheinend auch mehr als einen Unterschlupf gewährte. Während alle anderen Marcel als ihren Freund und Liebhaber akzeptierten, war der kleine Italiener darüber nicht erfreut und
Weitere Kostenlose Bücher