Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Mitteilung über den Verlust der Kutsche persönlich zu überbringen, obwohl die Feudalherrschaft der Aristokraten längst aufgehoben war. Aber der langjährige Gehorsam war dem genügsamen Mann längst in Fleisch in Blut übergegangen. Von dem Fund der Soldaten in dem Geheimversteck wusste der treue Diener jedoch nichts. Stattdessen quälte er sich mit Vorwürfen, den Befehl des Marquis nicht ausgeführt zu haben. Wenn dieser nun gar nicht mehr in Paris weilte? Oder wenn – was Gott verhüten möge – er vielleicht gar nicht mehr am Leben war?
Mit diesen sorgenvollen Gedanken nahm Gaspard – teilweise auf klobigen Bauernwagen, die ihre Ernte in die nächst gelegene Stadt brachten – den beschwerlichen Weg in die Hauptstadt auf sich, vorbei an den zerstörten Landsitzen der Edelleute und verstreuten Trupps der Bürgerwehr in abgerissenen Uniformen, die auf weitere Plünderungen aus waren und die eher Wegelagerern als Revolutionären glichen und sich teilweise auch so verhielten. Mitleidige Menschen schenkten ihm hin und wieder einen Kanten Brot. Des Nachts schlief er auf Stroh in den Scheunen und Ställe. Aber all das hielt ihn nicht davon ab, zu seinem Herrn zu eilen.
Der Druck von Juliens Hand verstärkte sich, als wolle er den Stoff des Hemdes durchdringen und scheinbar unabsichtlich war er näher an den Jungen herangerückt. Seine Finger spielten lässig mit den schwarzen Locken, die jetzt offen auf Marcels Schulter fielen. Dabei streiften seine Finger wie zufällig die zarte Haut des Halses. Sie fühlte sich so wunderbar warm an. Er musste vor kurzem getrunken haben! Augenblicklich tauchte in Julien die Erinnerung auf, da er von Marcel zum ersten Mal gekostet hatte. Genießerisch schloss er die Augen. Marcel selbst schien diese Berührungen zu dulden, ohne eine Regung zu zeigen. Er hatte seine Augen wieder dem Feuer im Kamin zugewandt. Seine Gedanken waren noch einmal zu der glücklichen Zeit im Zirkus zurückgekehrt.
Gerade näherte sich Juliens Gesicht weiter an, wie um den Duft dieses rabenschwarzen Haares aufzunehmen, und sein Atem streichelte bereits die Wangen des Jungen – da klopfte es heftig an der hölzernen Eingangstüre. Der Marquis hielt inne, fluchte lauthals, und Marcel blickte ihn verwundert an. Das Klopfen verstärkte sich. Wer begehrte zu so später Stunde noch derart vehement Einlass? Julien war empört und hätte den Besucher am liebsten mit bloßen Händen erwürgt.
Marcel war inzwischen aufgestanden und öffnete.
„Gaspard! Was in Dreiteufelsnamen machen Sie hier?“, rief er erstaunt aus.
Auch der Marquis hatte sich erhoben, und sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Zorn und Verblüffung. Der alte Kutscher trat ein und verneigte sich tief. Seine Kleidung war schmutzig und zerrissen, das Gesicht eingefallen und der Körper sichtlich abgemagert. Er machte einen bemitleidenswerten Eindruck.
„Verzeiht mir, Monsieur le Marquis. Ich bin untröstlich, dass ich Euren Befehl nicht ausführen konnte.“
Stockend begann der erschöpfte Mann von seinem Abenteuer zu erzählen, während Marcel ihm ein Glas Wein zur Stärkung reichte, welches er dankbar entgegen nahm. Als er von dem Diebstahl der Kutsche durch die Soldaten Napoleons berichtete, überwog eindeutig der Zorn im Gesicht des Marquis. Seine kobaltblauen Augen schienen Funken zu sprühen, aber noch immer schwieg er. Marcel war verunsichert. So kannte er seinen Mentor überhaupt nicht. Seiner Meinung nach hatte dieser sein Personal stets fair und vernünftig behandelt. Jetzt schien er völlig außer sich zu sein, das konnte er mit seinen vampirischen Fähigkeiten deutlich wahrnehmen. Er selbst dagegen empfand eher Mitgefühl mit dem treuen Diener.
Der junge Saint-Jacques konnte ja nicht ahnen, dass dem Marquis weniger der Verlust des Wagens als vielmehr der des Bildnisses schmerzte, das er unter Lebensgefahr aus dem brennenden Schloss geborgen hatte und das er nun für immer verloren wähnte.
Nachdem Gaspard geendet hatte, ging Julien zu seinem Kutscher und klopfte ihm verständnisvoll auf die Schulter, woraufhin ihm Gaspard einen dankbaren Blick schenkte. Der Marquis lächelte mit maskenhafter Kälte, packte dann unvermittelt das dünne Genick seines Bediensteten, und mit einem einzigen Ruck brach er dieses entzwei. Das Glas in Gaspards Hand zerschellte auf dem Boden, gefolgt von dem gebrochenen Körper.
„Was tut Ihr da?“, schrie Marcel seinen Gönner unbeherrscht an. „Dieser Mann hat Euch immer treu gedient
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