Im Bann der Lilie (Complete Edition)
geworden, unerreichbar fern in seiner eigenen Welt mit eigenen Gesetzen. Die Einwohner von Neapel schliefen fest um diese Uhrzeit. Nur in einem der Lokale schien noch gefeiert zu werden. Er warf einen Blick durch das hell erleuchtete Fenster, das zur Straße hin führte. Fröhliche Menschen lachten, tanzten und sangen festlich gekleidet in einem mit Blumen geschmückten Raum. Offenbar handelte es sich um eine Hochzeit. Silvio seufzte. Auch etwas, das ihm für immer verwehrt bleiben würde. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, jemals mit einer Frau zusammen zu sein.
Der junge Mann ging schnellen Schrittes weiter. War es nur die Kälte, die ihn zittern ließ? Da waren doch Schritte hinter ihm! Wieder wandte er sich um und wieder nichts als pechschwarze Dunkelheit. Er eilte weiter. Da vorne war ihr Zuhause! Er eilte darauf zu. Als er vor der Haustür stand, kramte er in seinen Taschen nach dem Bronzeschlüssel. Gerade wollte er ihn mit zwei Fingern herausfischen, als er einen ziehenden Schmerz in seinem Rücken spürte. Ein gurgelnder Schrei entrang sich seinen Lippen. War er das, der da schreien wollen? Eine Dunkelheit noch schwärzer als die Nacht umhüllte ihn. Seine Beine gehorchten nicht mehr und er sank auf das Pflaster. Alles, was er noch empfand, war eine unendliche Müdigkeit.
Marcels Schatten war gegen den Nachthimmel kaum auszumachen. Er hingegen hatte vom Dach des Rathauses einen hervorragenden Blick über die verwinkelten Gassen und Straßen, in denen nur vereinzelte Laternen glimmten. Auf dem Marktplatz stand ein Liebespaar und küsste sich. Ein paar streunende Katzen wühlten in den Abfalltonnen und irgendwo kläffte ein Hund. Vom Hafen her drang leises Meeresrauschen herüber, wenn die Wellen gegen die Kaimauer schlugen. Das war die ihm vertraute Melodie der Nacht! Diese wurde plötzlich unterbrochen von eiligen Schritten, die aus der Richtung kamen, wo Silvio und er wohnten. Marcel lauschte. Es waren die Schritte eines Mannes, der mit festem Schuhwerk über das Pflaster rannte. Das Geräusch eines Fliehenden! Jetzt kam die dunkel gekleidete Gestalt in sein Blickfeld. Der Mann wollte offenbar zum Hafen. Er blickte sich suchend um, denn er schien sich nicht gut auszukennen. Für einen Sekundenbruchteil wurde sein Gesicht unter dem Hut von dem Schein einer Laterne erfasst. Das war doch der Mann aus dem Lokal, der sie beobachtet und dem Wirt die Depesche übergeben hatte. Was tat der zu dieser späten Stunde hier und warum schien er auf der Flucht zu sein?
Silvio!
Ein ungutes Gefühl beschlich den jungen Chevalier. Schnell wie der Nachtwind huschte er über die Dächer der schlafenden Stadt, bis er vor ihrem Haus ankam. Seine dunkle Vorahnung bestätigte sich: Vor dem Eingang lag die zusammengesunkene Gestalt seines Gefährten und eine blutige Lache hatte sich unter ihm gebildet. „Teufel noch eins!“, fluchte Marcel laut, „dieser elende Schurke!“
Er kniete sich hinunter zu Silvio, dessen Gesicht bereits die Blässe des fahlen Mondscheins am Himmel angenommen hatte. Marcel schob seinen Arm unter den Kopf des Freundes und hielt ihn so in seinem Arm. Mit der anderen Hand tastete er den Rücken ab, bis er die blutende Wunde fand. Silvio war von diesem feigen Meuchelmörder rücklings erstochen worden! Aber warum? Dieser arme Junge hatte noch niemandem etwas getan! Also musste es wohl um ihn gehen: den Chevalier Saint-Jacques! Silvio bewegte sich leicht. Ein winziger Funken Leben war noch in dem zarten Körper. Marcel musste einen Entschluss fassen. Eine Wahl treffen, die er niemals hatte treffen wollen. Jetzt!
Noch zögerte der Vampir, Silvio diesen letzten, alles verzehrenden Kuss zu gewähren. Diesen einzigen und einzigartigen Kuss, der die Zeit für immer zum Stillstand brachte. Er war sich nicht sicher, ob er den richtigen Zeitpunkt wählen würde, ihn mit seinem Siegelring zu zeichnen. Konnte er das überhaupt so geschickt, wie damals der Marquis, als er hilflos in dessen Armen lag, vergiftet von seiner grausamen Halbschwester Elise auf dem Ball des Königs?
Nicht nachdenken – handeln!, befahl sich Marcel in Gedanken. Es war eigentlich nicht mehr nötig, Silvio zu beißen. Dieser trug bereits unzählige Wunden von ihm an seinem Körper. Aber für die Wandlung musste er es ein letztes Mal tun! Wie der Marquis ihn gelehrt hatte, vollführte er das uralte Ritual. Während er einen winzigen Schluck als Silvios Adern nahm, leuchtete das Zeichen des Siegelrings an seiner Hand auf. Er hatte
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