Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Zeiten seiner menschlichen Kindheit in diesem Haus und seine Mutter dachte. Aber dann tauchte auch wieder die Erinnerung an seine hasserfüllte Halbschwester Elise auf, die selbst vor einem Brudermord nicht zurückgeschreckt war. Er schüttelte den Kopf, als wolle er diese Erinnerungen aus seinem Geist verscheuchen wie aufdringliche Spatzen. Sie flogen davon. Die beiden Männer stiegen aus dem Sattel. Hier galt es, wieder aufzubauen und nicht, in der Vergangenheit zu schwelgen. Ein solcher Aufbau würde viel Zeit kosten – und ein kleines Vermögen!
Mit den Belohnungen, die er als Auftragsmörder für reiche adelige Erben nach der Revolution verdient hatte, war es dem jungen Chevalier nach Monaten gelungen, das Anwesen wieder in einen halbwegs akzeptablen Zustand zu versetzen und sogar einige Bedienstete einzustellen. Nahezu seit einem Jahr lebten die beiden jungen, attraktiven Vampire in diesem schlossähnlichen Gebäude ungestört und frönten ihrer Lust aneinander ebenso wie dem Blutdurst, den sie in der gleichnamigen, nahegelegenen Kleinstadt Châtellerault zweimal wöchentlich zu stillen pflegten. Natürlich, ohne Spuren beziehungsweise Leichen zu hinterlassen, denn schließlich wollten sie ihr Dasein unentdeckt noch länger genießen.
Allerdings benötigte man für den Erhalt eines so großen Anwesens weiterhin regelmäßig Geld, selbst wenn die früheren Ländereien enteignet worden waren und das Grundstück um gut die Hälfte geschrumpft war. Dieses umfasste immerhin noch mehrere Hektar Wald- und Weideland. Letzteres konnte man an Bauern verpachten. Aber auf die Dauer musste Marcel sich etwas einfallen lassen. Das Erbe seines Vaters in Form eines kleinen jährlichen Unterhaltes hatte die Revolution ebenfalls verschlungen. Was tun? Die einstige Pferdezucht des Vaters wieder ins Leben rufen? Dessen Geschäftsverbindungen mit den Kolonien wieder aufleben lassen? Oder gar seinem einstigen Dienst als „Problemlöser“ des Adels wieder aufnehmen? Hierfür war er, ohne Forderungen zu stellen, reich entlohnt worden. Der junge Vampir fand das eine wie das andere wenig verlockend in Anbetracht seiner Unsterblichkeit auf Erden. Dennoch musste er sich diesen allzu menschlichen Voraussetzungen stellen. Auch Vampire konnten normalerweise nicht in die Zukunft schauen. Vielleicht war es das, was den Marquis so an der Sternkunde interessiert hatte?
Marcels Gedanken kehrten zurück zu seiner eigenen und Silvios Zukunft: Pferde waren im Krieg immer begehrt, gerade jetzt, wo Napoleon als erster Konsuln Frankreichs neue Eroberungen plante. Die edlen Tiere wurden auf den Schlachtfeldern genauso dahingemetzelt wie die Soldaten. Ein einträgliches Geschäft also, und die Stallungen am Hause waren nahezu unversehrt geblieben, wenn auch stark renovierungsbedürftig. Sein Vater hatte ihn genug über Pferde und ihre Qualitäten gelehrt, um die Zucht wieder aufnehmen zu können.
Als der Chevalier am nächsten Morgen erwachte, stand daher sein Entschluss fest: Er wollte zusammen mit Silvio zum großen Viehmarkt nach Paris, um einen guten Hengst und mehrere Zuchtstuten einzukaufen. Remonten {1} wurden vom Militär direkt aufgekauft. Sie würden ganz von vorne beginnen müssen.
Andererseits – da war dieser Fluch, dem die beiden jungen Engel der Nacht folgen mussten, der sie an die Dunkelheit und das Blut der Lebenden kettete wie an die Verdammnis selbst. Sie mussten sich ausschließlich davon ernähren. Nur dann waren sie fähig, wie die „echten“ Lebenden zu existieren. Nur dann schmeckte der edle Wein in den Kristallgläsern, nur dann fühlten sie einander mit solch leidenschaftlicher Intensität wie in der vergangenen Nacht. Dies war der einzige Wermutstropfen in ihrem zurzeit mit Glück und Genuss erfüllten Dasein. Aber auch dieser Fluch ließ sich in der Hauptstadt Paris bestimmt sehr viel besser ertragen als hier auf dem Lande. Dort ließe sich das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden: Sie würden sich ein kleines Stadtpalais anmieten, Soireen geben, ins Theater und in die Oper gehen. Er würde Silvio all die Pracht der Hauptstadt zeigen, auch wenn Frankreich von den Reformen Napoleons verändert wurde. Im Laufe der Zeit war Marcels Mischlingsherkunft vergessen worden, nur sein adeliger Name war von Bestand und würde ihm weiterhin die offenen Türen der besseren Gesellschaft garantieren. Noch heute Abend würden sie aufbrechen!
Den Gedanken an Julien den Montespan, seinen eigenen Erschaffer, der ihm einst seine
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