Im Bann der Lilie (Complete Edition)
dies schon oft beobachtet, nun wollte er die Macht der Lilie endlich nutzen! Er drehte den Ring nach innen zur Handfläche hin und drückte das glühende Siegel in den Nacken seines Freundes, dort, wo auch er es vor langer Zeit empfangen hatte. Der Geruch des verbrannten Fleisches war eklig und er verzog das Gesicht.
„Unsterblich bist du geboren und unsterblich sollst du auf Erden wandeln“, murmelte er genau wie damals Julien den alten Spruch. Niemand wusste, woher er stammte. Er entfernte den Ring, der nun wieder ein ganz normales Aussehen besaß und drehte ihn wieder nach außen auf seinem Finger. Aufgeregt tastete er erneut nach der Wunde in Silvios Rücken. Tatsächlich: Sie begann langsam, sich zu schließen. Silvio bäumte sich unvermutet in seinen Armen auf, machte einen tiefen Atemzug wie ein Ertrinkender, der nach dem Auftauchen nach Luft rang. Marcel lächelte glücklich. Er hatte es geschafft. Irgendwie war er sogar stolz auf sich und fühlte sich das erste Mal als vollwertiger Vampir, nicht nur wie ein von Gott verfluchter Blutsauger, der versuchte, seinem Dasein einen Sinn zu geben. Nein, er, Marcel Saint-Jacques, konnte einen neuen Vampir schaffen – ein Kind der Dunkelheit gebären.
Silvio schlug die Augen auf. Das Blau seiner Augen besaß nun die Intensität von Lapislazuli mit einem tiefschwarzen Zentrum darin. Mein Gott, war er schön.
„Was ist geschehen?“, fragte er erstaunt seinen Gefährten.
„Du bist wiedergeboren“, erwiderte dieser mit ungewohnt zärtlicher Stimme. „Gestorben und wiedergeboren in meiner Welt. Willkommen, mein Liebling.“
Marcels Lippen senkten sich auf die von Silvio und liebkosten diese, bis ein nie gekanntes Feuer der Leidenschaft den neu geborenen Vampir erfasste und er diesen Kuss erwiderte, als hätte es nie einen wahren Kuss auf dieser Welt gegeben. Er umschlang Marcels Körper, in dem ein lockendes Begehren pochte. „Lass uns reingehen“, keuchte er.
In dieser Nacht verblasste Juliens Bild in Marcels Kopf und Herzen zum allerersten Mal, als würde ein Schwamm die Empfindungen für den Marquis de Montespan für immer auslöschen.
Die Brieftaube mit der Nachricht für William Townsend erreichte diesen noch vor der Abreise des Marquis nach Italien. Er sandte einen Boten zu dem Schiff, das bereits kurz vor dem Ablegen stand. Es würde in der Abenddämmerung die Themse hinunter segeln und sich auf den Weg nach Sizilien machen. Der Botenjunge überreichte den Brief gerade noch rechtzeitig. Julien riss ihn auf und sog die wenigen Buchstaben darin in sich auf:
Der Chevalier Saint-Jacques ist wohlauf, trotz des bedauerlichen Todesfalles in seiner Familie. Nun ist es an Euch, Euer Wort zu halten.
W. Townsend
So lautete die verschlüsselte Botschaft, die Julien sehr wohl verstand. Townsend hatte seiner Bitte entsprochen und diesen dummen sterblichen Jungen umbringen lassen. Somit sollte Marcels Herz wieder für ihn frei sein. Am liebsten hätte er seinen Hut vor Freude in die Luft geworfen, doch er beherrschte sich. Für diese gute Nachricht nahm er gerne die Strapazen einer weiteren Seereise auf sich! Er wusste aber auch, was der britische Geheimdienst nun von ihm erwarten würde: Alle Informationen über Napoleons Schlachtpläne, derer er habhaft werden konnte. Aber es war ihm egal, wenn er sich wieder bei diesem korsischen General anbiedern musste. Sollte der doch ruhig das Bild behalten! Er hielte ja dann den leibhaftigen Marcel in seinen Armen – und das bis in alle Ewigkeit. Was konnte es schöneres geben?
Julien war es egal, dass die Besatzung des Schiffes ihn anstarrte, wie er da glücklich lächelnd an der Reling stand mit dem geöffneten Brief in der Hand. Sollten sie ihn doch für einen verrückten Franzosen halten! Langsam blähten sich die schweren Segel im Abendwind, und der Kapitän ließ das Schiff in die Mitte des Flusses steuern. Was hatte Bonaparte damals doch zu ihm gesagt: „Wo immer der Wind uns hin weht!“
Die zweite Nachricht aus Italien erreichte William Townsend, als das Schiff des Marquis die Straße von Gibraltar ansteuerte. Das wird ihm gar nicht gefallen, dachte der hagere Engländer, als der die winzigen Zeilen auf der Botschaft der Brieftaube las. Der Anschlag auf den Gefährten des Chevaliers Saint-Jacques war offenbar fehlgeschlagen. Der Junge erfreute sich bester Gesundheit, und die beiden jungen Männer waren auf dem Weg nach Frankreich.
ENDE Teil 2
Im Bann der Lilie – Teil 3
27.Mai
Weitere Kostenlose Bücher