Im Bann der Wüste
sterblich war und dann zum Aufgestiegenen wurde. Assassinen verbeugen sich vor dem Altar der Effizienz, Icarium, und Effizienz ist grausam. Ihr werden die Leben von Sterblichen ohne zu zögern geopfert, alles für das, was gerade als größere Notwendigkeit angesehen wird. Zumindest war das bei Tanzer der Fall, der nicht für Geld getötet hat, sondern für eine Sache, die weniger eigennützig war, als Ihr vielleicht glaubt. Er selbst hat sich als einen Mann gesehen, der die Dinge regelt. Er hielt sich für ehrenhaft. Tanzer war ein integrer Mann. Aber Effizienz ist ein kaltblütiger Herr. Und außerdem gibt es da noch eine letzte Ironie. Ungeachtet seines Bedürfnisses, sich an Laseen zu rächen … sympathisiert ein Teil von ihm tatsächlich mit ihr. Schließlich hat sie sich dem gebeugt, was sie als größere Notwendigkeit angesehen hat – eine Notwendigkeit, die das Imperium betroffen hat –, und hat sich entschlossen, zwei Männer zu opfern, die sie Freunde genannt hatte.«
»Das heißt, in dir herrscht Chaos.«
»Ja, Icarium. So ist es, wenn die Erinnerungen fließen. Wir sind keine einfachen Geschöpfe. Ihr träumt davon, dass mit den Erinnerungen Wissen kommt, und dass das Wissen Euch dazu bringen wird zu verstehen. Doch jede Antwort, die Ihr finden werdet, wird tausend neue Fragen nach sich ziehen. Alles, was wir waren, hat uns dahin gebracht, wo wir heute stehen, doch es erzählt uns nichts davon, wo wir hingehen. Erinnerungen sind eine Bürde, die Ihr niemals abschütteln könnt.«
Ein starrsinniger Tonfall lag in Icariums Stimme, als er seine Antwort murmelte. »Eine Bürde, die ich trotzdem akzeptieren würde.«
»Lasst mich Euch einen Rat geben. Sagt das nicht zu Mappo, es sei denn, Ihr wollt ihm das Herz brechen.«
Dem Trell rauschte das Blut in den Ohren, und seine Brust schmerzte von einem viel zu lang angehaltenen Atemzug.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Icarium nach einiger Zeit leise. »Aber so etwas würde ich niemals tun, Mädchen.«
Mappo atmete ganz langsam aus, kämpfte um seine Fassung. Er spürte, wie ihm Tränen die Wangen hinunterrollten.
»Ich verstehe das alles nicht.« Dieses Mal waren die Worte kaum mehr ein Flüstern.
»Aber Ihr wollt es verstehen.«
Es kam keine Antwort. Eine Minute verstrich, dann hörte Mappo, wie sich jemand bewegte. »Hier, Icarium«, sagte Apsalar, »wischt Euch die Tränen ab. Jhags weinen nicht.«
Mappo konnte nicht schlafen, wobei er vermutete, dass auch andere in der Gruppe in dieser Ruhepause keine Ruhe vor ihren quälenden Gedanken fanden. Nur Iskaral Pustl schien sich rundum wohl zu fühlen – zumindest legten seine ächzenden Schnarchgeräusche diesen Gedanken nahe.
Es dauerte nicht lange, bis Mappo hörte, dass sich schon wieder jemand bewegte, und dann erklang Icariums ruhige, gemessene Stimme: »Es ist Zeit.«
Rasch brachen sie das Lager ab. Mappo war noch damit beschäftigt, die Schnüre seines Sacks zuzuziehen, als Fiedler bereits losmarschierte – ein Soldat, der sich vorsichtig, aber entschlossen dem Schlachtfeld näherte. Der Hohepriester des Schattens hüpfte hinter ihm her. Als auch Icarium losmarschieren wollte, streckte Mappo eine Hand aus und packte den Jhag am Arm.
»Mein Freund, die Azath-Häuser versuchen alle gefangen zu nehmen, die über Macht verfügen – ist dir bewusst, was du riskierst?«
Icarium lächelte. »Nicht nur ich, Mappo. Du unterschätzt dich noch immer, unterschätzt, was nach all diesen Jahrhunderten aus dir geworden ist. Wenn wir weitergehen wollen, müssen wir darauf vertrauen, dass der Azath versteht, dass wir nichts Böses im Sinn haben.«
Die anderen waren alle schon aufgebrochen – Apsalar hatte ihnen zum Abschied noch einen fragenden Blick zugeworfen –, und die beiden waren allein.
»Wie können wir Vertrauen zu etwas haben, das wir nicht verstehen?«, wollte der Trell wissen. »Du hast etwas von ›sich bewusst sein‹ gesagt. Was genau bedeutet dieses sich bewusst sein?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich spüre eine Präsenz, das ist alles. Und wenn ich sie spüren kann, dann kann sie mich auch spüren. Tremorlor leidet, Mappo. Es kämpft allein, und seine Sache ist gerecht. Ich habe vor, dem Azath zu helfen, und daher liegt die Entscheidung bei Tremorlor – es kann meine Hilfe annehmen oder nicht.«
Der Trell kämpfte darum, seinen Kummer zu verbergen. Oh, mein Freund, du bietest Hilfe an, und dir ist überhaupt nicht klar, wie schnell diese Klinge sich in eine andere Richtung
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