Im Bann der Wüste
… hab keine Kraft mehr!«
Bei den Göttern, ich bin nicht so hart wie du, Mädchen. »Ich glaube–«
»Tu es, verdammt noch mal! Wir haben keine andere Wahl!«
Zischend drehte Kulp sich zu Heboric um. »Alter Mann, kannst du mich verstehen? Heboric!«
Der Ex-Priester streckte sich; er grinste. »Erinnert Ihr Euch an die Hand aus Stein? An den Finger? Die Vergangenheit ist eine fremde Welt. Unvorstellbare Mächte. Sie zu berühren heißt, die Erinnerungen von jemand anderem wieder lebendig zu machen – von jemandem, der so anders denkt und fühlt als du, dass dich diese Erinnerungen in den Wahnsinn treiben können …«
Was für eine Hand aus Stein? Der Bastard fantasiert. »Ich muss auf deine Schultern klettern, Heboric. Das heißt, du musst fest und sicher stehen – wenn wir erst mal oben sind, werden wir einen Tragegurt zusammenbauen, um dich hochzuziehen. In Ordnung?«
»Auf meinen Schultern. Ein Berg aus Steinen, jeder einzelne von einem Leben geformt und gezeichnet, das schon lange für den Vermummten verloren ist. Wie viele Sehnsüchte, Wünsche, Geheimnisse? Wohin verschwindet das alles? Die ungesehene Energie der Gedanken des Lebens ist Nahrung für die Götter – hast du das gewusst? Darum müssen sie – müssen sie wirklich – wankelmütig sein!«
»Magier!«, heulte Felisin auf. »Beeil dich!«
Kulp trat hinter den Ex-Priester und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Dann steh jetzt fest – «
Stattdessen drehte der alte Mann sich um und schaute ihn an. Er hielt die beiden Handgelenke nebeneinander, ließ zwischen ihnen Platz, wo die Hände sein sollten. »Tritt hinein, ich werde dich direkt zu ihr hochwerfen.«
»Heboric – du hast keine Hände, um meinen Fuß festzuhalten …«
Das Grinsen des alten Mannes wurde breiter. »Lass mir doch meinen Spaß.«
Irgendetwas ließ Kulp seine Verwunderung überwinden, als er seinen Fuß in den festen Steigbügel aus ineinander verschränkten Fingern stellte, die er nicht sehen konnte. Erneut legte er dem Ex-Priester die Hände auf die Schultern.
»Du wirst direkt nach oben geworfen«, sagte Heboric. »Ich bin blind. Du musst mir sagen, wo ich mich hinstellen soll, Magier.«
»Einen Schritt zurück, noch ein bisschen. Ja, so.«
»Fertig?«
»Ja.«
Doch er war nicht auf den enormen Kraftausbruch vorbereitet, der ihn hochhob und anscheinend ohne Anstrengung senkrecht nach oben schleuderte. Kulp versuchte, instinktiv nach Felisin zu greifen, und verfehlte sie – zum Glück, denn er flog an ihr vorbei, durch das Loch in der Decke. Fast wäre er genauso senkrecht wieder hinuntergefallen. In panischer Hast warf er den Oberkörper herum, knallte schmerzhaft auf die Kante. Sie ächzte, sackte ein Stück ab.
Die Finger in unsichtbare Bodenfliesen gekrallt, zog der Magier sich auf den Fußboden hinüber.
Felisins Stimme drang schrill von unten herauf. »Magier, wo bist du?«
Kulp, auf dessen Gesicht sich ein fast schon hysterisches Grinsen festgesetzt hatte, antwortete ihr. »Ich bin hier oben. Ich ziehe dich gleich hoch, Mädchen.«
Heboric benutzte unsichtbare Hände, um geschickt an dem behelfsmäßigen Seil aus Leder und Stoff hochzuklettern, das Kulp ihm keine zehn Minuten später hinunterließ. Nicht weit von ihm saß Felisin in dem kleinen, düsteren Zimmer und schaute schweigend zu, während die Furcht ungehemmt in ihrem Innern tobte.
Ihr Körper schmerzte, und es wurde noch schlimmer, als das Gefühl in ihre Füße zurückkehrte. Feiner weißer Staub bedeckte das Blut an ihren Knöcheln und die Stellen, an denen die kristallenen Kanten der Säule ihr die Handgelenke aufgescheuert hatten. Sie zitterte wie Espenlaub. Der alte Mann hat eigentlich schon tot ausgesehen. Tot. Er hat vor Fieber gebrannt, aber sein Geschwätz war nicht nur leeres Gerede. In seinen Worten war Wissen, Wissen, das er unmöglich besitzen konnte. Und jetzt sind seine Geister-Hände wirklich geworden.
Sie warf Kulp einen Blick zu. Der Magier starrte stirnrunzelnd die zerrissenen Fetzen seines Regenumhangs an, den er in der Hand hielt. Dann seufzte er und richtete den Blick auf Heboric, der wieder in seine fiebrige Benommenheit zurückgefallen zu sein schien; er musterte ihren Gefährten schweigend.
Kulp hatte einen magischen Lichtschimmer heraufbeschworen, in dessen schwachem Glanz kahle Wände sichtbar wurden. An einer Wand führten ausgetretene Stufen zu einer stabil aussehenden Tür hinauf. Am Fuß der gegenüberliegenden Wand verlief eine Reihe runder
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