Im Bann der Wüste
alle schon älter. Es mussten Hunderte sein. Sie schienen allesamt friedlich gestorben zu sein – etwas, das Felisin irgendwie ein bisschen beunruhigte. Nicht jeder Tod ist schmerzhaft. Dem Vermummten ist das Mittel egal. Zumindest behaupten das die Priester. Doch seine größte Ernte hält er im Krieg, bei Seuchen und Hungersnöten. Die unzähligen Zeitalter der Befreiung müssen den Hochkönig des Todes ganz sicher gezeichnet haben. Aufruhr verstopft sein Tor und hat einen eindeutigen Beigeschmack. Ein heimlicher Völkermord muss sehr unterschiedliche Glocken zum Klingen bringen.
Sie spürte, dass der Vermummte in diesen Stunden sehr nah bei ihr war – eigentlich schon, seit sie auf diese Welt zurückgekehrt waren. Sie stellte fest, dass sie über ihn nachsann, als wäre er ihr Geliebter, als wäre er tief in ihrem Innern und würde einen Anspruch erheben, der dauerhaft und merkwürdig beruhigend war.
Und jetzt fürchte ich nur Heboric und Kulp. Man sagt, die Götter fürchten die Sterblichen mehr als einander. Ist das die Quelle meines Entsetzens? Halte ich ein Echo des Vermummten in meinem Innern gefangen? Der Gott des Todes träumt bestimmt von Strömen aus Blut. Vielleicht bin ich schon die ganze Zeit sein gewesen.
Und so bin ich gesegnet.
Plötzlich drehte Heboric sich um, schien sie aus seinen sonnenverbrannten, zugeschwollenen Augen zu betrachten.
Kannst du jetzt meine Gedanken lesen, alter Mann?
Heborics breiter Mund öffnete sich zu einem schiefen Lächeln. Nach einem Augenblick drehte er sich wieder um und ging weiter.
Das Zimmer endete an einer Türöffnung, durch die sie in einen Tunnel mit niedriger Decke gelangten. Wasser, das in der Vergangenheit hier entlanggeflossen sein musste, hatte die schweren Steine auf beiden Seiten glatt geschliffen. Kulp sorgte weiterhin für das diffuse Licht, das keine bestimmte Quelle zu haben schien, während sie vorwärts stolperten.
Wir schleppen uns dahin wie wiederbelebte Körper, verflucht zu einer Reise, die kein Ende hat. Felisin lächelte. Die besonderen Schützlinge des Vermummten.
Sie erreichten etwas, das früher einmal eine Straße gewesen sein musste, eng und gekrümmt, die Pflastersteine hatten sich zum Teil gehoben und aufgewölbt. Niedrige Wohngebäude drängten sich an den Seiten unter einem Dach aus verkrustetem, dickem Glas. Entlang aller Wände in Sichtweite verliefen schmale Streifen aus einem ähnlichen Material, als würden sie Wasserstände oder Schichten im Sand anzeigen, der einst alles ausgefüllt hatte.
Auf den Straßen lagen noch mehr Leichen, doch diese machten – verdreht und missgestaltet, wie sie waren – einen alles andere als friedlichen Eindruck. Heboric blieb stehen und legte den Kopf schief. »Ah, jetzt stoßen wir auf ganz andere Erinnerungen.«
Kulp kauerte sich neben einer der Leichen hin. »Ein Wechselgänger … er ist genau in dem Augenblick gestorben, da er sich verwandelt hat … in eine Art Reptil.«
»Wechselgänger und Vielwandler«, sagte der Ex-Priester. »Das Ritual hat Mächte entfesselt, die dann unkontrolliert zugeschlagen haben. Wie eine Seuche ist das Gestaltwandeln über Tausende gekommen – unerwartet, ohne Einweihung; viele wurden wahnsinnig. Der Tod hat reiche Ernte in der Stadt gehalten, in jeder Straße, in jedem Haus. Familien wurden von den Ihrigen in Stücke gerissen.« Er schüttelte sich. »Und all das binnen weniger Stunden«, flüsterte er.
Kulp hatte den Blick auf eine andere Gestalt gerichtet, die fast verloren inmitten eines Haufens von versteinerten Leichen lag. »Nicht nur Wechselgänger und Vielwandler …«
Heboric seufzte. »Nein.«
Felisin näherte sich dem Leichnam, auf den die Aufmerksamkeit des Magiers gerichtet war. Sie sah kräftige, nussbraune Gliedmaßen – einen Arm und ein Bein, die sich noch an einem ansonsten verstümmelten Torso befanden. Vertrocknete Haut bedeckte die kräftigen Knochen. Solche Wesen habe ich schon einmal gesehen. An Bord der Silanda. Ein Tlan Imass.
»Das sind also deine unsterblichen Wächter«, sagte Kulp.
»Stimmt.«
»Sie haben hier Verluste erlitten.«
»Oh ja, das haben sie«, sagte Heboric. »Entsetzliche Verluste. Es gibt ein Band zwischen den T’lan Imass und den Wechselgängern und Vielwandlern, eine mysteriöse Verwandtschaft, von der die Bewohner dieser Stadt nichts geahnt haben – obwohl sie für sich selbst den stolzen Titel des Ersten Imperiums in Anspruch genommen haben. Es könnte die T’lan Imass verärgert haben
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