Im Bann des blauen Feuers
Seite des Bahnsteigs, und Céleste zuckte zurück. Sie blinzelte, so als würde sie aus einem tiefen Traum erwachen.
„Ash, ich …“ Sie atmete tief durch. „Ich weiß nicht, ob …“
Er straffte die Schultern. Was war bloß in ihn gefahren, sich so gehen zu lassen. Er glaubte die Stimme des Dämons – Gargon – in seinem Kopf zu hören. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass deine Leute dich wieder zu dem machen werden, der du einst warst, wenn das hier vorüber ist, oder?“, hatte er gefragt und damit Ashs eigene Zweifel laut ausgesprochen. „Sie wollen das blaue Feuer, nicht dich. Für sie bist du nur ein nützliches Werkzeug. Aber was geschieht mit dir, wenn sie dich nicht mehr brauchen?“
Und dann hatte Gargon ihm etwas absolut Ungeheuerliches vorgeschlagen. Es war so verrückt, dass Ash im ersten Moment nicht einmal darüber hatte nachdenken wollen.
„Nun, wir sind ebenfalls daran interessiert, das blaue Feuer in unseren Besitz zu bringen, wie du sicher weißt“, hatte er gesagt. „Aber im Gegensatz zu deinen Kameraden wissen wir gute Arbeit zu schätzen …“
Und dann hatte er ihm angeboten, die Seiten zu wechseln. Unter dem Fürsten der Finsternis, so versprach er, würde Ash zu nie geahnter Macht und Stärke gelangen. Eine Rückkehr zu den Seraphim war dann selbstverständlich ausgeschlossen. Sollte er sich einmal mit den Mächten der Finsternis einlassen, so gab es kein Zurück mehr.
War es wirklich das, was er wollte? Wäre das nicht eine herrliche Ironie des Schicksals, wenn er zu einem von denen würde, die er sein ganzes Leben lang verfolgt und gejagt hatte?
Gargon war bereit gewesen, ihm eine kurze Bedenkzeit einzuräumen, ehe er eine Entscheidung treffen musste. Doch zum Abschied hatte er sich noch einmal umgedreht und wie beiläufig gesagt: „Wir wollen übrigens nur das blaue Feuer – das Mädchen interessiert uns nicht. Du kannst sie haben, wenn du willst.“
Diese Worte gingen Ash jetzt im Kopf umher, während er Céleste betrachtete. Du kannst sie haben, wenn du willst …
Hastig wandte er sich ab. Sie sollte den inneren Kampf, den er mit sich ausfocht, nicht bemerken. „Du hast recht, wir sollten das besser nicht tun“, sagte er, ohne sie anzusehen.
Sie ging um ihn herum und sah ihm in die Augen. Dabei runzelte sie die Stirn. „Warum bist du mir gefolgt?“, fragte sie. „Ich dachte, du wolltest mir nicht mehr helfen?“
Er atmete tief durch und nahm ihre Hand. „Stimmt – und du solltest wissen, dass ich es immer noch für total verrückt halte, ein solches Risiko einzugehen. Aber ich kann dich doch nicht einfach so in dein Unglück laufen lassen …“
Ihr Lächeln ließ sein Herz schneller schlagen.
In diesem Moment traf er eine Entscheidung …
Céleste lebte bei ihrer Tante und ihrem Onkel, solange sie zurückdenken konnte. Marie und Jacques Ténèbre hatten sie nach dem Tod ihrer Mutter bei sich aufgenommen – widerwillig zwar, doch immerhin. Und seit jenem Tag wohnte sie bei ihnen in dem kleinen Einfamilienhaus am Stadtrand von Paris. In einer tristen Vorortstraße, in der jedes Haus dem anderen glich wie ein Ei dem anderen. Mit sorgsam gehegten und gepflegten Vorgärten, die den ganzen Stolz des jeweiligen Besitzers darstellten.
Ganz genauso wie in der Rue du Jardin – der Straße, in der sich das Haus vom Bruder ihres Onkels befand. Seltsam, dass ihr heute zum ersten Mal auffiel, wie trostlos diese ganze Gegend war. Ebenso wie das Leben, das ihre Tante und ihr Onkel und all die anderen Leute hier führten. War Marie deshalb ihr gegenüber oft so ungerecht gewesen?
Eines wusste sie auf jeden Fall: Für sich selbst wollte sie so etwas niemals. Sie verabscheute diese typische Mittelklassen-Einfamilienhausidylle. Man wollte den Anschein erwecken, dass in einem solchen Vorort so gut wie nie etwas passierte. Die Leute zogen hierher, weil es eben keine Schlagzeilen über Einbrüche, Überfälle und Bandenkriminalität gab. Um zehn wurden die Bürgersteige hochgeklappt, und spätestens um Mitternacht lagen all die vorbildlichen Vorzeigefamilien längst in ihren Betten und schliefen den Schlaf der Gerechten. Aber wer wusste schon, was hier hinter geschlossenen Türen vor sich ging. Sie mochte gar nicht wissen, wie viele Tragödien, wie viele Katastrophen sich hier schon zugetragen hatten, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommen hätte.
„Es scheint alles ruhig zu sein“, sagte sie.
Ash, der neben ihr ging, nickte. Doch er wirkte
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