Im Bann des Feuers Drachen2
Jugend erzählte die Mutter meines Vaters, die das erstaunliche Alter von zweiundfünfzig Jahren erreichte, uns Mädchen jeden Abend Geschichten aus dieser Zeit, als mahnende Erinnerung daran, wie einfach unsere Kindheit im Vergleich zu ihrer war. Die schweren Falten um ihre wässrigen Augen glänzten im Gedächtnis an all das Leid, und ihre Worte verfolgten uns bis in den Schlaf. Obwohl sie starb, bevor ich sechs Jahre alt war, habe ich ihre Geschichten niemals vergessen.
Eine, die sie besonders liebte, war die von ihrer ältesten Nabel-Tante.
Es war mitten in einer besonders harten Zeit des Feuers, als die Muay-Pflanzen schlaff in den Clangärten lagen und ihre verwelkten, braunen Blätter sich zusammenrollten. Unter der erbarmungslosen Glut der Sonne knackten die Bretter der Frauenhäuser wie die alten Knochen eines sterbenden Tieres, und die Wassertürme des Clans stanken von Schlamm und den aufgeblähten Kadavern von Ungeziefer, das vom Durst getrieben in die großen Bottiche gefallen und ertrunken war.
Damals fanden häufig Gänge zum örtlichen Tiefbrunnen statt. An einem besonders heißen Tag wurde meiner Großmutter, die damals sieben Jahre alt war, die Aufgabe zugeteilt, mit ihrer Mutter, ihrer ältesten Nabel-Tante und zwei weiteren kräftigen Mädchen Wasser zu holen. Sie warteten in der apathischen, unendlich langen Schlange vor dem Tiefbrunnen vom Morgengrauen bis beinah zum Mittag. Unter ihren Bitoos kochten sie förmlich, ihre Haut war so fiebrig heiß wie die glasierte Haut einer auf dem Spieß gerösteten Sau, und sie konnten weder denken noch sich rühren, ja, sie vermochten kaum zu atmen. Sie wechselten sich in der Schlange unter dieser gnadenlosen Sonne ab und suchten Schutz im Schatten des nahegelegenen Tempels. Wenngleich das die brütende Hitze der Sonne und die Wärme unter ihren Bitoos kaum linderte.
Schließlich kamen sie an die Reihe. Endlich spritzte das abgestandene, metallisch schmeckende Wasser in ihre enormen Urnen.
Auf ihrem Rückweg zum Gelände des Clans balancierten sie die sperrigen Urnen mit dem kostbaren Wasser auf ihren Köpfen. Die Tante meiner Großmutter stolperte über einen Ziegelstein, der aus einer der uralten Mauern gefallen war, welche Clan von Clan, Zunft von Zunft trennte. Sie verrenkte sich den Knöchel und schrie auf. Mit einer Hand suchte sie aus einem Reflex heraus Halt, um ihr Gleichgewicht zu behalten, und erwischte dabei aus Versehen den Arm ihres jugendlichen Neffen, der an diesem Tag als Viagandri, als Mädchenhirte, eingeteilt war.
Ein von der Hitze gequälter Drachenjünger mit einer Wange, die aufgrund eines faulen Zahns geschwollen war, beobachtete das.
Die Nabel-Tante meiner Großmutter wurde auf der Stelle in Gewahrsam genommen, wegen des zweifachen Vergehens, dass sie auf Tempelgrund in der Öffentlichkeit gesprochen und versucht hatte, einen Mann zu verführen.
Der Gerechtigkeit wurde zwei Tage später Genüge getan, nachdem die Akolythen der Drachenjünger genügend Steine gesammelt und sie an strategisch günstigen Stellen auf dem Marktplatz fein säuberlich aufgeschichtet hatten. Großmutters Nabel-Tante, die bei lebendigem Leib in ein Grudrun eingenäht worden war, das schwere Leichenhemd aus Hanf, mit dem tote Frauen während ihres Transportes zu den Gharial-Becken verhüllt wurden, wurde kurz nach Tagesanbruch aus dem Tempelgefängnis getrieben. Unter dem Grudrun war sie geknebelt und von den Schultern bis zu den Knien gebunden. Sie konnte nur steif gehen und sah nichts.
Sie wurde aufrecht in ein Erdloch gesteckt, hoch aufgerichtet, als wäre sie ein Zaunpfahl. Das Loch war etwa schenkeltief. Zwei Akolythen der Drachenjünger schaufelten daraufhin Erde in das Loch zurück und gruben sie fest ein. Sie arbeiteten achtlos und hastig mit ihren Spaten, voller Erwartung.
Meine Großmutter, die erst sieben Jahre alt war, wurde aufgefordert, der Steinigung beizuwohnen, weil sie das Vergehen ihrer Tante mit angesehen hatte und von daher eines Pimala-Fuwa bedurfte, der belehrenden Läuterung, die erfolgte, wenn man mit ansah, wie eine Strafe vollzogen wurde.
Außerdem forderte man sie auf, die ersten Steine zu werfen.
Noch als alte Frau erinnerte sich meine Großmutter lebhaft an das Geräusch, das diese Steine auf dem Körper ihrer Tante erzeugten. Es waren leise, dumpfe Geräusche, als würden verfaulte Pflaumen auf dem Boden zerplatzen, wenn sie vom Zweig eines ungepflegten Baumes fielen. Sie erinnerte sich an das Schweigen ihrer Tante,
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