Im Bann des Feuers Drachen2
bewegen, um nicht der Panik zu erliegen, die sich wie ein Gewittersturm in mir aufbaute.
Ich hielt sie im Zaum, wandte mich wieder zu dem Schrank um und begann, systematisch jede Rolle und jede Bambushülle zu durchsuchen, die in dem Schrank verstaut waren.
Aber keine der Rollen trug die Zeichen, die ich suchte, die der Schriftrolle des Rechtshäuptigen Kranichs.
Mit klopfendem Herzen untersuchte ich die letzte Rolle im Schrank. Dann drehte ich mich ungläubig und mit wachsendem Entsetzen um und betrachtete die zahllosen Schriftrollen, die in der Felskammer verstreut waren.
Es würde mich Tage kosten, sie alle zu überprüfen. Tage.
Die Kerze brannte fast halb herunter. Meine Augen brannten, als wären sie von Disteln umringt. Mein Kopf drohte, wie ein Felsbrocken von meinen Schultern zu fallen.
Es war bereits Abend, das merkte ich an meiner Erschöpfung und dem warmen, feuchten Duft, der von draußen hereinwehte. Drachenjünger Gen und sein Akolyth Oteul mussten jeden Moment zurückkommen.
Steif, verkrampft und resigniert erhob ich mich und blies die Kerze aus. Dann stolperte ich aus der Felskammer in das Erdgeschoss des Tempels. Augenblicklich drangen die Geräusche und Gerüche des Dschungels im Zwielicht auf mich ein, denn der Dschungel umarmte die Zone der Toten wie ein unerwünschter Geliebter. Der erdige Geruch von Pilzen, vermoderndem Holz, verwesenden Blättern und Schlingpflanzen umgab mich so fühlbar, als läge ich in Kompost. Das scharfe, saftige Aroma von frischen Pflanzen lag wie eine Grundlage darunter, und ein anderer Geruch legte sich wie eine Decke über alles: der trockene, rauchige Gestank von verbranntem Holz, von altem Feuer und Asche. Dieser Geruch gehörte nicht zum Dschungel, aber er würde noch lange über der Zone der Toten liegen, Tag und Nacht, Jahr um Jahr. Es war ein Geruch, der seit der Vergeltung immer gegenwärtig gewesen war.
Von meinem Standort im Erdgeschoss des Tempels Ornisak konnte ich in seine trostlosen Etagen hinaufblicken, sah die Fledermäuse, die über den vom Zwielicht rötlich gefärbten Himmel zuckten, hörte ihr triumphierendes Zirpen, wenn sie mit ihren winzigen Klauen Insekten gefangen hatten und die Käfer noch im Flug in ihre Mäuler stopften.
Ich würde darauf warten, dass Drachenjünger Gen zurückkam, beschloss ich müde. Ich würde ihn anflehen, mir die Schriftrolle zu überlassen. Das würde er tun, ganz bestimmt. Er würde wegen Hochverrat und Blasphemie hingerichtet werden, falls andere Tempeljünger erfuhren, dass er mich einst versteckt und mich verkleidet hatte. Wenn nötig, würde ich ihn damit erpressen.
Ich ging über den Boden des vernachlässigten Tempels, machte einen Bogen um den zerfallenen Steinaltar in der Mitte und ließ mich in der untersten Etage des Frauenbereichs nieder, um dort auf die Ankunft des Heiligen Hüters zu warten.
Oteul, sein Akolyth, traf zuerst ein.
Oteul hatte mich nie gemocht. Er hatte mich während der Monate, die ich – als Akolyth verkleidet – neben ihm und Drachenjünger Gen gearbeitet hatte, sehr reserviert beobachtet. Wir hatten neue Heimstätten für die Kinder der Zone der Toten gesucht, die nach der Vergeltung zu Waisen geworden waren, hatten Knochenbrüche und Striemen geheilt, Feuer gelöscht, die immer wieder aus den schwelenden Ruinen der Zone aufflackerten.
Oteuls Aversion gegen mich erklärte sich nicht nur aus meinem Geschlecht und dem Sakrileg meiner Verkleidung, sondern auch dadurch, dass er Zeuge geworden war, wie ich praktisch über Nacht von der nahezu tödlichen Wunde, die mir der Wachsoldat in der Cafar beigebracht hatte, genas. Am Tag nach meiner Ankunft im Tempel Ornisak hatte er diese außerweltliche Narbe konsterniert angestarrt, die ein schwaches, bläuliches Schimmern auf seine Wangen warf. Von dem Moment an hatte er mich argwöhnisch beäugt.
Ich wiederum hatte ihn misstrauisch im Auge behalten.
Angesichts der Tatsache, dass ich so wundersamerweise von einer Wunde genas, die eindeutig von dem Schwert eines Wachsoldaten Cafar Res stammte, und angesichts von Drachenjünger Gens Eifer, mich vor den Augen der Inquisitoren des Tempels zu verstecken, hatte Oteul gewiss vermutet, dass ich es gewesen war, welche die Bayen angegriffen hatte, die Adlige, die ich für Kratt gehalten hatte, und dass ich von daher für die Vergeltungsmaßnahmen verantwortlich war, im Zuge derer die Zone der Toten dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Beide Annahmen trafen zu.
Aber so sehr ich ihn auch
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