Im Bann des Feuers Drachen2
provozierend, fast trotzig: Einen Arm hatte sie über ihren Kopf gelegt, die Brüste streckte sie vor, ein Bein baumelte über den Rand des Diwans, und ihre wohlgeformte Wade war entblößt. In dieser Hinsicht erinnerte sie mich an meine Schwester Waivia, obwohl es unmöglich war, die beiden zu verwechseln, wegen Misutvias schrecklich blutunterlaufenen Augen, ihrer Leichenblässe und dem trägen Gang.
Mir fiel auf, dass Misutvia, so rasch sie auch die Pflicht übernahm, ein Fehlverhalten von Großmutter zu melden, niemals die Pflicht für sich beanspruchte, einen Fehltritt einer der anderen Frauen zu melden. Nicht ein einziges Mal.
Mit jedem Tag, der verstrich, wuchs meine Achtung vor Misutvia. Sie behandelte alle, außer Großmutter, respektvoll und normal. Mir fiel auf, wie sie sich verhielt, wenn niemand die Pflicht beanspruchte, das Fehlverhalten einer anderen Frau zu melden, was gelegentlich vorkam. Sie schien mit sich zu ringen, ob sie diese Pflicht für sich beanspruchen sollte, entschied sich jedoch stets dagegen.
Und was hieß überhaupt Fehlverhalten, heho! Die Skala reichte vom völlig Verrückten bis zum Unvorstellbaren, und ich zuckte immer zusammen, wenn eine Frau ihren Anspruch gegen eine andere anmeldete.
»Großmutter, ich habe bemerkt, dass du heute keine Verdauung hattest. Du versagst vor den Drachen und den Drachenjüngern, indem du dir erlaubst, krank zu werden. Das ist ganz gewiss ein Fehlverhalten. Ich übernehme die Pflicht, es zu melden.«
»Misutvia, du hast in der Nacht unruhig geschlafen; du hast die anderen wachgehalten. Das gefährdet ihre Gesundheit. Ich übernehme die Pflicht, dieses Fehlverhalten zu melden.«
»Prinrut, du hast heute Mittag während der Fütterung einen katatonischen Anfall erlitten und dadurch eine Mahlzeit versäumt.«
»Kabdekazonvia, du hast heute noch weniger gegessen als gestern.«
»Sutkabde, du hast seit einer Klaue voll Tagen keine Leinwand mehr kreativ gestaltet. Solche mentale Laschheit ist eine Nachlässigkeit; sie ermuntert Trägheit und körperlichen Verfall.«
Es war sehr lehrreich für mich, ihnen zuzuhören, wie sie ihr Fehlverhalten aufzählten. Ich sorgte dafür, dass ich einmal am Tag verdaute, ganz gleich, wie sehr ich mich anstrengen musste. Ich schmierte trockene, klumpige Farbe auf eine Leinwand, um das Fehlverhalten mentaler Laschheit zu vermeiden. Ich aß reichlich, obwohl mein Appetit mit jeder Gabe des Drachengiftes abnahm, die mir der fette Eunuch verabreichte. Ich dehnte meine Glieder in Anwesenheit der andren, und zwar vor jedem Mittagsmahl, damit man mir nicht den Vorwurf machen konnte, mich nicht rasch genug von der Vorbereitungszelle zu erholen, um die Drachenjünger zu erfreuen.
Wie gesagt, zu allen anderen Zeiten rollte ich mich in meine Steinnische und entfloh dem Leben im Schlaf.
Das war der sicherste Weg, mit meiner ungeheuerlichen Situation klarzukommen: die Realität so gut zu ignorieren, wie es ging, ganz ähnlich, vermute ich, wie Prinrut es mit ihren katatonischen Anfällen tat.
Aber ich konnte das Thema dieses Meldens von Fehlverhalten nicht gänzlich meiden, denn jeden Abend, nach dem erzwungenen Abendessen, stand jede Frau, die tagsüber die Pflicht für sich beansprucht hatte, das Fehlverhalten einer anderen zu melden, vor dem fetten Eunuchen. Er notierte mit ernster Miene dieses Fehlverhalten in einem Folianten, in dem er mit einem Gänsekiel schrieb, den er in ein minderwertiges Tintenfass tunkte, dessen graue Glasur beim Brennen rissig geworden war. Er schrieb sowohl den Namen der Frau auf, die das Fehlverhalten begangen hatte, als auch den derjenigen, die es gemeldet hatte.
Ich nahm an, dass es sich dabei um eine Art von Bewertungssystem handelte, bei dem jede Meldung der Fehltritte anderer die Tadel für das eigene Fehlverhalten minderten oder man sogar einen Kredit für die Zukunft aufbauen konnte, falls kein Fehlverhalten neben dem eigenen Namen notiert wurde. Ich fragte nicht, wann oder wie das gemeldete Fehlverhalten bestraft werden würde, und blieb in meiner Nische, bis auf die Mahlzeiten und die kurzen Ausflüge, um mich zu dehnen und Farbe auf eine Leinwand zu schmieren. So mied ich die Gesellschaft anderer, die mich darüber hätten aufklären können.
Denn ich wusste es schon. Ich wusste, wie bedeutsam diese Liste mit gemeldetem und begangenem Fehlverhalten war.
Die Art, wie die Frauen reagierten, wenn sie bei einem Fehlverhalten erwischt wurden, legte nahe, dass die letztendliche Bestrafung
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