Im Bann des Fluchträgers
Schiffe habe ich noch nie gesehen«, sagte er.
Sie waren drei Mal so groß wie die größten Häuser in Dantar. Sanft bewegten sie sich in den Wellen auf und ab wie Riesen, die im Schlaf ruhig atmeten, begleitet vom Wiegenlied der knarzenden Taue. Jedes Schiff trug drei Masten und war schlank und schnittig gebaut, Ravin erinnerte es an die Bauweise der leichten, wendigen Boote, die sie im Tjargwald zur Jagd auf die flinken Belafische verwendeten. Eines der Schiffe hatte die Segel eingebunden, die Masten der drei anderen dagegen waren noch nackt wie Skelette.
Das sind keine Fischerboote, dachte Ravin beunruhigt.
»He, ihr!«
Sie fuhren herum.
Der dürre Mann machte einen Satz nach rückwärts und hob beschwichtigend die Hände.
»Sachte! Steck doch das Messer ein, Junge!«
Ladro senkte sein Messer, doch behielt er es in der Hand.
»Was willst du?«, fragte er. Der Mann ließ die Hände sinken und lächelte.
»So etwas Ähnliches wollte ich euch fragen. Dachte, ihr seid Dantarianer.«
Seine Worte klangen fremd. Er betonte sie seltsam und dehnte die Laute auf ungewohnte Art.
»Nein, wir sind Reisende«, antwortete Ladro.
»Es sind eine Menge Fremde in der Stadt«, sagte der alte Mann. Immer noch schwang Anspannung in seiner Stimme mit.
»Und«, fuhr er fort, »sie haben alle die Angewohnheit, mit Messern herumzufuchteln. Habt ihr Angst, ich würde euch mit bloßen Händen angreifen?«
Nach einem kurzen Blickwechsel steckte Ladro sein Messer weg. Der Mann schien erleichtert zu sein.
»Ihr kommt wohl aus einer Gegend, in der sichs mit den Nachbarn gar nicht gut leben lässt«, murmelte er und wandte sich zum Gehen.
Ravin ging ihm ein paar Schritte hinterher.
»Bitte warte!«, rief er. Der Mann blieb stehen, drehte sich um und sah Ravin mit ausdruckslosem Gesicht an. Ravin konnte ihm nicht verübeln, dass er keine Lust mehr verspürte, sich zu unterhalten.
»Mein Freund wollte dich nicht bedrohen. Wir wurden heute bereits einmal überfallen.«
Der Mann musterte Ravin und zuckte die Schultern.
»Geht mich nichts an. Aber Reisende sind mir immer noch lieber als Krieger. Hat mich einfach gewundert, wer hier mitten in der Nacht in Flut herumläuft.«
Ladro trat hinzu.
»Wir sind hier also in Flut?«
»Klar«, sagte der Mann. »Sieht man doch. Oder meint ihr, in Dantar baut man die Straßen immer so, dass sie direkt ins Meer führen?«
Er bemerkte den ratlosen Blick, den sie wechselten, und runzelte die Stirn.
»Sucht ihr eine Unterkunft? Welcher Tölpel hat sich den Scherz mit euch erlaubt und euch hergeschickt? Skody vom Seilermarkt?«
Ravin schüttelte den Kopf.
»Wir suchen jemanden.«
Selbst in der Dunkelheit konnte er erkennen, wie der Mann vor Erstaunen die Augen aufriss.
»Hier?« Er schüttelte den Kopf. »Hier wohnt keiner mehr, mein Junge. Ihr seht doch, hier ist nur noch die Schiffswerkstatt und sonst nichts. Da!« – er deutete hinter sich auf die Häuser – »Unbewohnt, seit die Welle alles weggespült hat.«
»Du meinst, hier haben einmal Leute gewohnt, dann wurde der Stadtteil geflutet – und seitdem …«
»… nennt man diesen Teil Dantars Flut. Ganz recht. Ist jetzt zwei Sommer her. Wüsste nicht, wer auf die unmögliche Idee käme, euch hierher zu schicken. Außer er will euch reinlegen.«
»Das hat uns gerade noch gefehlt!«, stöhnte Ladro.
»Na ja«, sagte der Mann nun. »Ich wollte euch ja nur helfen. Aber wenn ihr lieber mit langen Gesichtern hier herumstehen wollt …«
»Sumal Bajü«, sagte Ravin. »Sumal Baji Santalnik. Die suchen wir.«
»Sumal?« Der Mann lachte. Es klang wie ein Krächzen, dann hustete er und lachte wieder.
»Warum sagt ihr das nicht gleich? Sie hat hier gewohnt – ungefähr da drüben.« Vage deutete er auf eine Stelle im Meer, etwa vier Pferdelängen von ihnen entfernt. »Hat damals bei der Flut
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