Im Bann des Fluchträgers
schon sehr lange keinem Reisenden den Zutritt verwehrt hatte. Dieser Gedanke beruhigte ihn.
Die Stadt war größer als alle Lager, die Ravin je gesehen hatte. Nicht nur die weiß getünchten Häuser wirkten im Vergleich zu den Zelten im Tjärgwald riesenhaft und beängstigend. Auch die Straßen waren so breit, dass man eine ganze Ranjögherde mühelos hätte hindurchtreiben können. Wenn Platz gewesen wäre. Denn die Stadt war voller Menschen. So viele strömten an Ravin vorbei, dass er nicht wusste, wie er ihnen ausweichen sollte. Stimmen bedrängten ihn von allen Seiten, bis er sich von bunt gekleideten Hallgespenstern umgeben glaubte. Im Fackelschein saßen die Menschen vor ihren Häusern, unterhielten sich, handelten mit Fisch, Süßigkeiten und allen Arten von Angelhaken, ohne Ravin und Darian zu bemerken. Als seien wir Gespenster, schoss es Ravin durch den Kopf. Panik drohte ihn für einen kurzen Moment zu übermannen, dann blickte er Ladro an und sah in seinen Augen dieselbe Verwirrung.
»Himmel, so viele Menschen an einem Ort habe ich noch nie gesehen«, sagte er. und zupfte seinen Umhang zurecht, unter dem er sein Messer verbarg. »Wir müssen auf der Hauptstraße bis zur letzten Biegung gehen und von dort aus nach einer Gasse Ausschau halten, die Flut heißt. Ich hoffe nur, Skaardja weiß, wohin sie uns schickt.«
Ravin überlegte auf dem Weg, ob heute in Dantar ein Fest stattfand. Im Tjärgwald liefen niemals alle Menschen gleichzeitig in der Nacht bei Fackelschein umher. Er entdeckte eine steinalte Frau, die vor einem Hauseingang auf einem zusammengerollten Tau saß und mit knotigen, verkrümmten Fingern ein feinmaschiges Fischernetz knüpfte. Als sie vorübergingen, bemerkte sie seinen Blick, schaute Ravin kurz an, ohne dass ihre Finger zur Ruhe kamen, und knüpfte dann weiter.
»Sedmecks?«, fragte eine Stimme direkt neben Ravin. Er erschrak und machte einen Satz zur Seite. Ein dunkles Gesicht war neben dem seinen aufgetaucht. Weiße Zähne leuchteten im Fackelschein. »Sedmecks?«, wiederholte der Händler und hielt Ravin ein Bündel geräucherter Fische auf Holzspießen unter die Nase. Ravin schüttelte den Kopf und beeilte sich Ladro zu folgen. Eine Ewigkeit, so erschien es ihm, gingen sie auf der breiten Straße. Ab und zu nahm er zwischen all den Gerüchen und Düften ganz schwach eine frische salzige Brise wahr. Schließlich bogen sie in eine Gasse ab, in der mehrere umgedrehte, schmale Boote auf Holzklötzen lagen. Vermutlich wurden sie hier trockengelegt und instand gesetzt, denn jedes von ihnen wies Beschädigungen auf. Im Vorübergehen bemerkte Ravin mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, dass viele dieser Beschädigungen offensichtlich von Zähnen verursacht worden waren. Am Bug des größten Bootes saß ein hagerer Mann und strich mit einem Stück Holz eine Paste auf die Seitenwand. Sie roch angenehm nach verbranntem Harz. Er blickte nur kurz auf, als sie an ihm vorübergingen, um dann das Holz wieder in die zähe schwarze Flüssigkeit zu tauchen. Die Meeresbrise vermischte sich mit dem Geruch von etwas, das Ravin nicht bestimmen konnte. Faulig und doch nicht unangenehm.
Plötzlich standen sie am Wasser. Ravin war so verblüfft, dass er erst gar nicht bemerkte, wie seine Füße von warmen Wellen umspült wurden. Die Straße endete direkt im Meer. Ratlos schauten sie auf die glitzernde Wasserfläche. In der Ferne tanzten Lichtpunkte über die Wellen. Ladro fluchte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Hier müsste Flut sein!«
»Zumindest sind wir am Hafen«, meinte Ravin und deutete nach rechts, wo sich vier riesige Schiffe schwarz gegen den Himmel abhoben. Ladro riss die Augen auf.
»So große
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