Im Bann des Fluchträgers
fährt sie mit uns, wenn sie all ihre Kräfte brauchen könnte, um sich gegen diesen Fluch zu stellen? Sie sollte lieber versuchen mit Skaardja herauszufinden, wie sie dem Fluch entgehen kann. Warum lasst ihr Darian und mich nicht allein fahren und kehrt zurück in euer Land um Amina zu helfen?«
»Sie hat es selbst so entschieden, Ravin.«
Ravin schüttelte den Kopf.
»Das passt nicht zu ihr. Amina gibt nicht auf. Als ich sie fragte, ob sie ihren Bruder aufgegeben habe, da hat sie mich angeschrien. Nein, da ist etwas anderes. Und ich glaube, dass du mir mehr darüber sagen könntest.«
Einen Moment lang blitzte etwas in Ladros Augen auf, das er nicht deuten konnte. Doch dann senkte er den Blick und zog seinen Umhang zurecht.
»Es passt sehr wohl zu Amina, dass es ihr wichtiger ist, die Menschen in Tjärg vor Jerriks Schicksal zu bewahren. Ihr beide habt mit eigenen Augen gesehen, wozu Diolen fähig ist.«
Ravin ließ den Kopf hängen und schwieg. Plötzlich hörten sie schnelle Schritte, die nicht in einer Gasse verhallten, sondern sich dem Seilerplatz näherten. Beide sprangen sie gleichzeitig auf und blickten auf eine hohe Gestalt, die sich ihnen mit gesenktem Kopf näherte. Ihrem unbekümmerten, federnden Gang nach zu urteilen glaubte sich die Person auf dem Seilerplatz allein. Ravin staunte über die Selbstsicherheit, die die hoch gewachsene Gestalt ausstrahlte, als käme sie gar nicht auf die Idee, dass ihr in den Gassen oder in den Schatten jemand auflauern könnte. Entweder war sie sehr arglos oder sehr stark und kampfgeübt. Das Scharren am Gürtel und ein leises Schnappen, als würde ein Messer in der Scheide einrasten, legten den Schluss nahe, dass Letzteres zutraf.
Erst als sie direkt vor ihnen stand, bemerkte sie die beiden Fremden, die vor ihrem Haus warteten, und hob ruckartig den Kopf. Im Dunkeln sah Ravin nur schemenhaft zwei Augen, die ihn eher verwundert als erschrocken ansahen.
»Ach du grässlicher Kerot!«, sagte die Fremde. »Euch gibt es ja wirklich!«
»Sumal Baji Santalnik?«, fragte Ladro.
Statt einer Antwort stieß die Gestalt mit dem Fuß die Tür auf. Im Mondschein hatten sie lediglich ein schmales Gesicht ausmachen können, umrahmt von blitzendem Goldschmuck. Doch als Sumal eine Fischtranlampe entzündete, blieb Ravin der Mund offen stehen, denn er blickte in das schönste Gesicht, das er je gesehen hatte. Sein erster Gedanke war, dass alles an ihr golden wirkte. Ihre dunkles Haar fiel ihr, straff aus der hohen Stirn gekämmt, in einem kunstvollen Zopf bis zu den Hüften. In dem von der Sonne gebleichten Schwarz schimmerten rotgoldene Strähnen. Sumals Augen waren schräg geschnitten und verliehen ihrem Gesicht einen edlen, beinahe hochmütigen Ausdruck. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch ein vorspringendes, kräftiges Kinn. Das Erstaunlichste aber war, dass Sumal nur wenige Sommer älter sein mochte als Ravin. Im Stillen hatte er eine Frau wie Skaardja erwartet. Die große junge Frau passte so gar nicht in das Bild, das er sich von einer Kapitänin gemacht hatte. Mit einer unwilligen Geste winkte sie sie herein und gebot ihnen, sich zu setzen. Zögernd ließen sie sich auf den Holzklötzen nieder, die offensichtlich als Stühle dienten. Sumal Bajis Haus sah nicht aus, als wäre es bewohnt. Eher glich es einer Werkstatt mit allen Arten von Brecheisen, Haken, Netzen und Speeren. In der Mitte stand ein runder Tisch, der, jahrelang von Fischblut durchtränkt, hart und schwarz geworden war wie eine Platte aus Stein. Sumal Baji entledigte sich noch ihres Gürtels, sodass ihr leuchtend gelber Überwurf über ihre Leinenhosen fiel, dann stellte sie drei polierte Holzbecher auf den Tisch und ließ sich auf einen der Blöcke fallen.
»Nun«, begann sie ohne Umschweife.
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